Streitgespräch

Ist Deutschland bereit für die Vier-Tage-Woche?

Für Sophie Jänicke, Vorstandsmitglied der IG Metall, ist die Vier-Tage-Woche die Zukunft der Arbeit. Sie sieht darin Potenzial für ein gesünderes und nachhaltigeres Leben. Der Ökonom Holger Schäfer bezeichnet die verkürzte Arbeitswoche hingegen als Utopie, die sich nicht realisieren lässt. Wir haben mit den beiden ein konstruktives Streitgespräch geführt.

 

Viele Länder experimentieren schon länger mit der Vier-Tage-Woche. Anfang 2024 startet auf Initiative der Organisation 4 Day Week Global auch in Deutschland ein Pilotversuch. 50 Unternehmen testen ein halbes Jahr lang die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Frau Jänicke, ist Deutschland bereit für so ein Arbeitsmodell?

Sophie Jänicke: Das wird unter anderem dieser Versuch zeigen. Wir sind in einer Entwicklungsphase: Passt das Modell grundsätzlich zu den Arbeitsrealitäten in Deutschland? Wenn ja, wie genau muss es gemacht sein, damit es funktioniert? Einzelne Unternehmen erproben das ja auch bei uns bereits seit Längerem. Ich glaube, für die Stahlbranche etwa könnte die Vier-Tage-Woche die Zukunft sein. Wir als IG Metall fordern hier aktuell eine Verkürzung der 35- auf eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Kurz: Ich glaube, Deutschland ist reif dafür.

Was spricht für Sie dafür?

Jänicke: Erstens kann die Verkürzung der Arbeitszeit Beschäftigung sichern. Viele Branchen sind durch die ökosoziale Transformation im Umbruch, sie müssen sich anpassen an die Anforderungen einer klimagerechten Wirtschaft. In einigen Unternehmen und Branchen werden sicher Jobs wegfallen. Zweitens ist eine Vier-Tage-Woche gesünder. Das Arbeitsleben ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich stressiger geworden. Und drittens ist eine Vier-Tage-Woche natürlich ein dickes Plus für die Work-Life-Balance, bietet mehr Raum für Familie, Hobbys, ehrenamtliches Engagement, Weiterbildung. Eine im Mai veröffentlichte Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Die große Mehrheit der Beschäftigten wünscht sich die Möglichkeit einer Vier-Tage-Woche. Erst recht die Generation Z. Sie möchte eine andere Arbeitskultur als ihre Eltern, die Boomer-Generation ist ja auch die Burnout-Generation. Die Jungen sagen sich „Nee, so nicht, es gibt noch mehr als Arbeit im Leben.“ Die Vier-Tage-Woche kann eine Antwort auf die Frage sein: Wie soll die Zukunft der Arbeit aussehen?

Herr Schäfer, überzeugt Sie das?

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Holger Schäfer: Nein. Die Erwerbsbevölkerung in Deutschland schrumpft, der Arbeitskräftemangel nimmt massiv zu. Da ist eine Verkürzung der Arbeitszeit ein völlig falsches Signal an die Mitarbeitenden und volkswirtschaftlich ein großer Fehler. Wenn wir alle weniger arbeiten, steht noch weniger Arbeitskraft zur Verfügung. Also wird weniger produziert, es gibt weniger Dienstleistungen, weniger Einkommen, das wir ausgeben und besteuern und mit dem wir Wohlstand sozial umverteilen können. Wenn wir alle 20 Prozent weniger arbeiten, bedeutet das 20 Prozent weniger Wirtschaftsleistung.

Wie soll die Zukunft der Arbeit aussehen? Die Vier-Tage-Woche kann die Antwort sein
Sophie Jänicke
Sophie Jänicke ist Leiterin der Abteilung Tarifpolitik im Vorstand der IG Metall in Frankfurt. Ihr Schwerpunkt ist Arbeitszeit. Die Politikwissenschaftlerin berät auch Betriebsräte vor Ort.

Jänicke: Das sehe ich völlig anders. Wir lassen ja in Deutschland ein gewaltiges Potenzial von Arbeitskräften ungenutzt. Erstens Frauen …

Schäfer: … deren Erwerbsbeteiligung bei uns inzwischen zu den höchsten in Europa gehört, nur in Schweden und der Schweiz ist die Quote höher …

Jänicke: … aber in Deutschland arbeiten Frauen sehr oft unfreiwillig Teilzeit. 2019 gab es eine Million Teilzeitbeschäftigte, meist Frauen, die ihre Arbeitszeit gern aufgestockt hätten. Aber Frauen verdienen meist immer noch weniger als Männer. Daher entscheiden viele Paare, dass sich die Frau um die Kinder kümmert. Die Kinderbetreuungsangebote gehen ja nach wie vor oft davon aus, dass Frauen Teilzeit arbeiten. Wenn wir einen neuen Arbeitszeitstandard etablieren könnten, eine kürzere Vollzeit für alle wie in der Vier-Tage-Woche, würde das die Chancen für eine partnerschaftliche Aufteilung von Familienarbeit gewaltig erhöhen, vielleicht auch zu einer gerechteren Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen führen.

Schäfer: Aber es ist doch völlig illusorisch, damit eine Reduktion von 20 Prozent der Gesamtarbeitszeit im Land kompensieren zu können.

Jänicke: Wir können mit einer Vier-Tage-Woche zweitens Ältere länger in den Betrieben halten. Erwerbstätige scheiden in vielen Branchen durchschnittlich 1,5 Jahre vor dem gesetzlichen Renteneintritt aus. Gerade Menschen mit schweren Tätigkeiten halten nicht länger durch, auch nicht jene in Schichtarbeit. Mit kluger Arbeitszeitverkürzung würden sie länger dabeibleiben.

Schäfer: Da bin ich anderer Meinung. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich die Erwerbsbeteiligung Älterer verdoppelt. Warum? Weil wir Frühverrentungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt und weniger attraktiv gemacht haben, durch höhere Rentenabschläge etwa. Und wir haben das Renteneintrittsalter angehoben. Rente mit 63 ist heute ein Anachronismus. Mit einer Arbeitszeitverkürzung verschärfen wir noch den Mangel, denn die Älteren werden dann weniger arbeiten und schließlich doch früher in Rente gehen.

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Jänicke: Herr Schäfer, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten ausgetragen. Unsere Kolleg:innen in der Stahlbranche sagen uns immer wieder: Um gesund in Rente gehen zu können, brauchen wir über das gesamte Arbeitsleben hinweg Entlastung. Erst recht in Schichtarbeit wie in der Gesundheitsbranche. Bei Arbeitszeiten zwischen 32 und 34 Stunden können wir Schichtsysteme bauen, die Erholzeiten gut absichern.

Schäfer: Interessant, dass Sie die Pflege erwähnen. Dort ist der Mangel so groß, dass der Bereich bei einer Arbeitszeitverkürzung völlig zusammenbräche …

Jänicke: … oder die Pflegekräfte würden nicht mehr massenweise wegrennen, weil die Arbeitsbedingungen stimmten.

Die Erwerbsbevölkerung schrumpft, da ist eine Verkürzung der Arbeitszeit absurd
Holger Schäfer
Holger Schäfer ist Ökonom und Experte für Beschäftigung und Arbeitswelt am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. Arbeitszeitmodelle gehören zu seinen Forschungsfeldern.

Reden wir noch mal über die Finanzierbarkeit: Wie wollen Sie 20 Prozent weniger Arbeitszeit ausgleichen?

Jänicke: In der Stahl- und Elektroindustrie müssen wir sie ja nur um 8,5 Prozent reduzieren, um auf eine Vier-Tage-Woche zu kommen. Von 35 auf 32 Stunden. Die Reduktion ist fast überall Anstoß, um die Produktivität zu steigern. Nicht indem die Leute schneller arbeiten. Sondern indem die Unternehmen Arbeitsabläufe anders organisieren und dabei erhebliche Produktivitätsreserven heben. So etwas funktioniert. Als in den 1980er/90er-Jahren die Arbeitszeit in der Metallbranche von 40 auf 35 Stunden reduziert wurde, musste sogar der Arbeitgeberverband Gesamtmetall einräumen: Zwei Drittel der Kosten dafür wurden in kurzer Zeit durch Produktivitätssteigerungen aufgefangen.

Schäfer: Damals war das Produktivitätswachstum in der Wirtschaft doch viel höher, der Spielraum größer. Heute geht es in allen Ländern zurück. Arbeitszeit reduzieren können wir nur noch, wenn wir jahrzehntelang auf einen Teil unseres Einkommens verzichten.

Jänicke: Das stimmt nicht, es gibt auch aktuelle Beispiele. Die Metallindustrie in Ostdeutschland etwa reduziert seit 2021 Schritt für Schritt die Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden. Den Unternehmen gelingt es recht schnell, diese drei Stunden weniger zu kompensieren. Sogar Krankenstände und Fehlerquoten sinken.

Schäfer: Aber schauen wir uns doch die Dimension an: Das jährliche Produktivitätswachstum in der Metall- und Elektroindustrie liegt seit zehn Jahren durchschnittlich bei 0,4 Prozent. Um diese 8,5 Prozent zu kompensieren, bräuchten sie also mehr als 20 Jahre. Völlig utopisch. Außerdem arbeiten Unternehmen ohnehin immer so effizient wie irgend möglich, sonst wären sie ja blöd. Die brauchen dafür nicht die Vier-Tage-Woche als Anstupser.

Jänicke: Die Modellversuche sprechen eine andere Sprache. Beispiel Handwerk: Da bieten Betriebe zunehmend eine Vier-Tage-Woche, um Fachkräfte zu gewinnen. Letzte Woche habe ich mit einem Unternehmer aus Thüringen gesprochen, der schon umgestellt hat. Seitdem ist sein Umsatz deutlich gestiegen.

Schäfer: Können Sie den kausalen Zusammenhang belegen? Das sehe ich nicht. Auch die Modellversuche sagen wenig aus. Bei dem Versuch in Großbritannien dieses Jahr wurde die Produktivitätsentwicklung gar nicht gemessen. Zudem waren nur Firmen beteiligt, die eh die Vier-Tage-Woche einführen wollten, sich super vorbereitet hatten, Beratung bekamen. Die Befunde sind nicht auf die Wirtschaft insgesamt übertragbar.

Jänicke: Nein, 1:1 sicher nicht. Aber Fakt ist, dass alle in Großbritannien beteiligten Unternehmen anschließend die Vier-Tage-Woche beibehalten wollten. Arbeitgeber:innen ebenso wie Beschäftigte. Das Beispiel ist sehr wohl eine Ermutigung für Deutschland. Es zeigt, dass es sich lohnen kann, diesen Weg zu gehen.

Schäfer: Wenn es gut ist für das Unternehmen – okay. Ich warne nur davor, die Ergebnisse überzubewerten. Zumal unter den 61 beteiligten Firmen vor allem kleinere Unternehmen, Dienstleistungsbetriebe und Non-Profit-Companys waren, etwa aus den Bereichen Marketing und Büro. Nur drei aus der Industrie.

Spanien unterstützt einen Modellversuch zur Vier-Tage-Woche mit staatlichen Zuschüssen. Ein richtiger Weg?

Jänicke: Wenn eine Regierung Unternehmen Anreize setzen will, so ein Arbeitszeitmodell auszuprobieren, kann das für eine Phase sinnvoll sein. Dauerhaft natürlich nicht, der Staat ist nicht für Entgelte zuständig.

Schäfer: Noch mal: Wir verlieren in den nächsten Jahren vier bis fünf Millionen Erwerbstätige. In der Situation darüber nachzudenken, mit staatlichen Subventionen Leute zu bewegen, weniger zu arbeiten, ist absurd.

Es gibt auch Vier-Tage-Modelle, die nicht mit einer Arbeitszeitverkürzung einhergehen. In Belgien haben Vollzeitangestellte seit Ende 2022 das Recht, ihre Arbeitszeit auf vier Tage zu komprimieren.

Jänicke: Tatsächlich schließen Firmen zunehmend solche Betriebsvereinbarungen ab. Von den Beschäftigten
genutzt werden sie wenig. Sicher kann es in manchen Lebenslagen besser zu den Bedürfnissen eines Mitarbeitenden passen, an vier Tagen länger zu arbeiten und dafür einen Tag frei zu haben. Für das gesamte Arbeitsleben sprechen wir uns entschieden dagegen aus. Der Acht-Stunden-Tag wurde im Arbeitszeitgesetz ja festgelegt, weil alle Studien zeigen, dass längere Arbeitstage negative gesundheitliche Folgen haben. Auch die Grenzwerte für Gefahrenstoffe wurden auf acht Stunden berechnet. Wird der Tag länger, müsste man das anpassen.

Schäfer: Am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) haben wir eine Studie dazu gemacht, demnach wünschen sich tatsächlich 28 Prozent der Vollzeitbeschäftigten so ein Modell. Aber auf Dauer? Da bin ich auch skeptisch. Beschäftigte büßen Flexibilität ein. Arbeitet man an einem Tag mal weniger, weil etwa das Kind aus der Kita abgeholt werden muss, kann man das an den anderen Arbeitstagen kaum aufholen, weil die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden nicht überschritten werden darf. Also muss man doch an seinem freien Tag ran. Auch die Unternehmen sind weniger flexibel.

Wir müssen ökologischer wachsen, statt weniger zu arbeiten und zu verzichten
Holger Schäfer

Ob unsere Wirtschaft angesichts der Klimakrise weiter wachsen kann, ist fraglich. Ist die Vier-Tage-Woche die richtige Antwort auf eine Wirtschaft auf Schrumpfkurs?

Schäfer: Nein, wir müssen ökologisch verträglicher wachsen, und das ist möglich. Die Wirtschaft wird immer ressourceneffizienter. Den Kurs müssen wir fortsetzen, statt auf Wachstum und Wohlstand zu verzichten und nur vier Tage die Woche zu arbeiten.

Jänicke: Ich sehe die Vier-Tage-Woche durchaus als Baustein für eine nachhaltigere Entwicklung. Sie macht es leichter, nachhaltiger zu leben. Wenn viele Menschen einen Tag weniger mit dem Auto in den Betrieb fahren müssen, spart das eine Menge CO2. Es bedeutet weniger Stress im Verkehr, weniger Ausgaben für Benzin. Und wer keine Zeit vor lauter Arbeit hat, schiebt abends eher mal eine CO2-schädliche Tiefkühlpizza in den Ofen, als selbst zu kochen.

Wer mehr Zeit hat, kann nachhaltiger leben, spart Stress, Benzin und CO2
Sophie Jänicke

Frau Jänicke, Herr Schäfer, wird in fünf Jahren eine Vier-Tage-Woche in vielen Unternehmen Usus sein?

Schäfer: Nein.

Jänicke: Die Vier-Tage-Woche wird sich unterschiedlich schnell in den Branchen entwickeln. Und sie darf nicht gedacht werden als One-fits-all-Modell. Die Konzepte müssen genau auf ein Unternehmen abgestimmt sein. Ein Schichtbetrieb hat andere Anforderungen als ein Büro. Auch Beschäftigte haben unterschiedliche Bedürfnisse. Um die Vier-Tage-Woche vor 30 Jahren bei VW umzusetzen, mussten die Standorte 150 verschiedene Varianten entwickeln, damit das Modell zu den Produktionsanforderungen und Mitarbeiterwünschen passte. Das können wir aus der Zeit damals lernen.

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Jänicke: Habe ich schon ein paar Jahre lang gemacht, eine gute Erfahrung. Ich hatte mehr Zeit zur Erholung, für ein Ehrenamt. Ich finde, man sollte über sein Leben hinweg flexibel sein. Die Bedürfnisse ändern sich, ebenso die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Schäfer: Ich arbeite fünf Tage und leide nicht unter meiner Arbeit. Mich interessiert sehr, woran ich arbeite und daher mache ich es manchmal auch am Wochenende, freiwillig. Vielleicht ist das in zehn Jahren anders. Dann müsste ich aber auf Gehalt verzichten, das ist mir schon klar.

Jänicke: Es sei denn, wir Gewerkschaften setzen etwas anderes durch. Aber bei einem arbeitgebernahen Institut wie dem IW ist das natürlich knifflig.

Fotos: IG Metall / IW

Sophie Jänicke (IG Metall) und Holger Schäfer (Institut der Deutschen Wirtschaft).

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