Ist das eine Gefahr für die Wirtschaft, Herr Lenz?
Justus Lenz: Eindeutig ja. Bürokratische Hürden kosten Deutschland nach einer aktuellen Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung jedes Jahr etwa 146 Milliarden Euro. Unternehmen kosten endlose Auflagen Zeit und Geld. Das ist dramatisch, denn die Wirtschaft ist in einer ernsten Lage. Im November hat der Sachverständigenrat für Wirtschaft festgestellt: Das reale Wachstum lag in den vergangenen fünf Jahren bei 0,1 Prozent. Einer der Gründe ist das Übermaß an
Bürokratie. Das höre ich in jedem Gespräch mit Unternehmer:innen und Wirtschaftsvertreter:innen. Gemeint ist damit zweierlei: die Ineffizienz der Verwaltung und eine permanent wachsende Regeldichte.
Gefährdung ja/nein?
Ja, sagt Justus Lenz, Experte für Unternehmen & Leiter des Liberalen Instituts der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Berlin.Zum Beispiel?
Lenz: Selbstständige leiden seit Jahren unter dem sogenannten Statusfeststellungsverfahren, ein bezeichnend bürokratischer Begriff. Er meint: Hier wird geprüft, ob jemand scheinselbstständig ist. In dem Fall müssten die Auftraggeber:innen Sozialversicherungsabgaben zahlen. Es ist natürlich richtig, das zu überprüfen. Aber das Verfahren selbst ist irrsinnig kompliziert. Ich habe neben meinem festen Job einen kleinen Lehrauftrag an der Universität Erfurt. Seit diesem Jahr muss ich ein Formular mit 18 Einzelfragen ausfüllen, obwohl die Sachlage völlig klar ist. Im europäischen Länder-Ranking der Stiftung Familienunternehmen liegt Deutschland in Sachen Bürokratie-Overload auf Platz 19 von 21.
Herr Knill, ist die Bürokratie also am Straucheln der Wirtschaft schuld?
Christoph Knill: In der Pauschalität muss ich widersprechen. Viele Studien zeigen, dass wir eine funktionierende, stabile Bürokratie haben. Deutschland ist ein Rechtsstaat, hat im internationalen Vergleich eine hoch entwickelte öffentliche Verwaltung. Sie garantiert Verlässlichkeit und die einheitliche Anwendung des Rechts, in der Umwelt-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik.
Gefährdung ja/nein?
Nein, sagt Christoph Knill, Professor für Politikwissenschaft & Bürokratieforscher an der Ludwig-Maximilians-Universität München.Der Soziologe Max Weber definierte schon vor hundert Jahren Bürokratie als notwendige Bedingung eines demokratischen Staates. Weil sie Herrschaft durch klare Verfahren einhege, einen Schutz vor Willkür biete …
Knill: … ja, und Voraussetzung für eine prosperierende Ökonomie ist. Wir können belegen, dass ein starker Staat mit einer starken Verwaltung grundsätzlich ein höheres Wirtschaftswachstum begünstigt. Das sollte man als Ausgangspunkt im Blick haben. Unternehmen fordern ja selbst Regularien ein, um einen verlässlichen Rahmen für ihr Wirtschaften zu haben. Dann müssen sie auch mit einer Administration klarkommen, die diese Regelungen umsetzt. Bürokratie wird manchmal zu leicht zum Sündenbock erklärt.
Lenz: Aber Herr Knill, nehmen wir ein anderes Beispiel: Für alle Unternehmen, egal ob groß oder klein, sind Genehmigungsverfahren ein Riesenproblem, zum Beispiel für Bauprojekte. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat 255 solcher Verfahren aus 27 Branchen untersucht: In den vergangenen fünf Jahren wurden Genehmigungen durchschnittlich ein halbes Jahr später erteilt als vom Gesetzgeber erlaubt.
Knill: Zweifellos gibt es Probleme, das sehe ich genauso. Die Verwaltungen sind schlicht überlastet. Wenn die Politik Regeln macht, hat sie Kapazitäten häufig nicht im Blick. Daher dauern Genehmigungsverfahren so lange. Dieser Kapazitäts-Gap verstärkt sich mittlerweile selbst: Jede neue Regel macht die Entscheidungen komplizierter, die Verwaltung sichert sich noch mal ab, damit sie keinen Ärger bekommt. Sie will Widersprüche und Klagen verhindern.
Und doch arbeiten 5,2 Millionen Menschen im Öffentlichen Dienst, ein großer Teil davon in der Verwaltung. Warum bleiben trotzdem die ein…
Justus Lenz (li.) arbeitet als Leiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin und Christoph Knill (re.) als Professor für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.