Schwerpunkt: Gereizte Gesellschaft

Ruhiger Schlaf: Nacht ohne Welt

Der Kopf ist voll. In den Schlaf zu finden, fällt immer mehr Menschen schwer. Ob Ohrstöpsel etwas helfen?

Hier oben im achten Stock sollte die Welt ganz ruhig sein. Eigentlich. Doch von der Hauptstraße dröhnt noch das Hupen der Autos, aus den Büros das Klappern der Tastaturen und das Murmeln der Mitarbeitenden. 62,8 Dezibel zeigt der Schallpegelmesser auf der Fensterbank in dicken roten Buchstaben an, im Hintergrund hellblauer Himmel – ungewöhnlich sonnig für einen Januartag in Utrecht. Mitten im spärlich eingerichteten Raum steht ein langer Tisch, darüber baumeln Hängepflanzen und zwei schwebende Spiegel. „Own the volume“ steht auf einem Sticker. Wer hier, beim Start-up Alpine, sitzt, bekommt nicht die Haare, die Nägel oder das Make-up gemacht. Wer hier Platz nimmt, der sucht nach Stille.

Folgende Prozedur: Erst mal werden die Ohren inspiziert – reinleuchten, prüfen, putzen. Dann wird vorsichtig ein Stück Watte in den Gehörgang geschoben, bis zum Trommelfell. Mit einer Vorrichtung, die an eine Heißklebepistole erinnert, wird eine kühle, zähe Masse in das Ohr gedrückt. Dann heißt es warten, ganze drei Minuten, bis die blaue Substanz langsam in jeden Winkel des Gehörgangs kriecht, das Ohr vollständig ausfüllt, bis kein Raum mehr für Schall und Regung bleibt. Jegliche Mimik ist verboten, während die Masse sich unter Knacken und Knistern ausdehnt wie Eiswürfel in einem Glas Wasser. Dann: Ruhe. Ein merkwürdiges Gefühl, wenn sie plötzlich eintritt. Ohne Geräusche wirkt die Welt weiter weg, man selbst ungeschützt. Doch je mehr Zeit vergeht, desto sicherer fühlt sich der Zustand an, bis mit einem Ruck das Silikon aus den Ohren gezogen wird – und der gewohnt laute Alltag wieder auf einen einprasselt. 

Personalisierte Handyhüllen oder T-Shirts – nichts Neues –, aber personalisierte Ohrstöpsel? Das bietet die niederländische Firma Alpine Hearing Protections an, neben vielen anderen Gehörschutz-Produkten. Was vor einiger Zeit noch zur Alte-Menschen-Ausstattung zählte, entwickelt sich zu einem Trend. Das hat einen Grund: Unsere Welt ist lauter und hektischer geworden. Doch nicht immer ist nur der physische Lärm verantwortlich für das Dauerdröhnen im Kopf. Das Leben rast an uns vorbei, wir kommen mit unseren Aufgaben nicht hinterher – im Privatleben und in der Arbeit –, die Anforderungen steigen, wir denken in Tabs, alles schreit. Die Folge: zu wenig oder schlechter Schlaf – und nicht selten dauerhafte Schlafprobleme. Ein Teufelskreis. 

Mehr Schlafstörungen

„Schlafstörungen haben allein in der Schweiz in den vergangenen 25 Jahren von fünf auf fast sieben Prozent zugenommen“, sagt Salome Kurth, Schlafforscherin und Assistenzprofessorin am Departement für Psychologie an der Universität Fribourg. Das entspricht einer Steigerung von fast 36 Prozent. Einen Anstieg gab es vor allem bei jungen Menschen. Kurth weiß, wovon sie spricht. Als sie Ende 20 mit ihrer Forschung begann, zeichnete sie bis in die frühen Morgenstunden die Augenbewegung, Muskel- und Hirnaktivität von Studienteilnehmenden mit dem Elektroenzephalogramm auf. „Wie stark sich der Schlafmangel auf meinen Alltag auswirkte, hat mich beeindruckt“, sagt Kurth. „Über mir lag ein Schleier – ich war dünnhäutig, wenig konzentriert, meine Leistung litt darunter.“ 

Depression, Angstzustände, Infektanfälligkeit, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Gedächtnisprobleme, Diabetes – die Liste der Folgen von chronischem Schlafmangel, wie Insomnie, ist lang. Das heißt: Betroffen ist, wer seit mindestens drei Monaten und an mindestens drei Tagen der Woche wenig bis keinen Schlaf mehr findet, immer wieder aufwacht oder sich auch nach einer durchgeschlafenen Nacht nicht erholt fühlt. Das trifft allein in Deutschland auf fast zehn Prozent aller Erwachsenen und etwa sechs Millionen Menschen zu. Das Gefühl, gelegentlich hellwach im Bett zu liegen, kennt weltweit jede:r Dritte. Eine 2021 veröffentlichte Studie des Journal of Clinical Sleep Medicine fand heraus, dass sich die Schlafqualität bei vierzig Prozent der Befragten seit der Pandemie im Vergleich zur Zeit vor dem Ausbruch verschlechtert hat – die Anzahl an Depressiven stieg global um 25 Prozent. 

Wie stark sich Schlafmangel auf meinen Alltag auswirkte, hat mich beeindruckt. Über mir lag ein Schleier – ich war dünnhäutig, wenig konzentriert, meine Leistung litt. 
Salome Kurth, Schlafforscherin

Das Geschäft mit der Stille wächst. Aus dem Boden sprießen Produkte, die Erholung versprechen. „Gehörschutz für jedes Alter und jede Situation“, wiederholt Jens Herweg – groß, schlank, schneeweiße Reebok-Turnschuhe, Jeans und blaues Hemd – wie ein Mantra, während er an seinem Ingwertee nippt. Hinter ihm wuseln junge Leute in Hoodies und Turnschuhen von einem Stehschreibtisch zum anderen. Durch die lange Fensterfront des Gemeinschaftsraums geht der Blick auf die Dächer der anderen Hochhäuser. Vom niederländischen Charme, den schmalen Kanälen und kleinen Häusern aus terracottafarbenen Backsteinen ist im Viertel Transwijk wenig zu spüren. Hier häufen sich Gewerbeflächen. Hier werden Geschäfte gemacht.

Über Herwegs Kopf funkelt eine Discokugel, die Überreste einer Partygirlande hängen müde von der Decke, in der Ecke des Raums stehen ein Flipperautomat und ein DJ-Pult. Nicht nur für den Eigenbedarf, versichert Herweg. „Wir prüfen damit unsere Produkte.“ Seit fast drei Jahren arbeitet Herweg bei Alpine. 1994 von Peter und Lisette de Roode gegründet, entwickelt das Unternehmen wiederverwendbare Schlaf- und Filterohrstöpsel und personalisierten Gehörschutz, verkauft davon mehr als vier Millionen Exemplare jährlich weltweit. 

„Unsere Produkte werden vor Ort in den Niederlanden produziert – kein billiger Schaumstoff aus China“, sagt Herweg. Für die Produktion verwendet das Unternehmen spezielles, antiallergisches Thermoplastik-Material. Die Bandbreite ist groß: Gehörschutz für Babys, Kinder und Erwachsene, Konzerte, Motorradfahren, Schwimmen, Fliegen und vor allem – Schlafen. Herweg: „Es geht darum, sich zu schützen, nicht zu isolieren.“ Und zunehmend auch darum, cool auszusehen. „Ohrstöpsel werden immer mehr  zum Lifestyle-Produkt, alles dreht sich um Selfcare.“ Ähnlich wie bei Smartphone-Kopfhörern gibt es zu den Stöpseln ein walnussgroßes Case, das man am Hosen- oder Schlüsselbund anbringen kann. Herweg: „Irgendwann werden Ohrstöpsel so geläufig sein wie Zahnpasta oder Sonnencreme.“ 

Bei Ohrstöpseln geht es darum, sich zu schützen, nicht zu isolieren. Dabei werden sie immer mehr  zum Lifestyle-Produkt und irgendwann so geläufig sein wie Zahnpasta oder Sonnencreme. 
Jens Herweg, Geschäftsführer Alpine Gehörschutz

Die Ohren dicht machen, um der Umwelt zu entkommen – das gibt es schon seit der Antike. Damals benutzte man Tierfett, Harz und andere Stoffe. So lässt in der griechischen Mythologie Odysseus seine Gefährten ihre Ohren mit Bienenwachs verschließen, um dem Gesang der Sirenen zu entkommen. Der kommerzielle Durchbruch von Ohrstöpseln erfolgte erst im 20. Jahrhundert, mit dem Aufstieg eines Imperiums: Ohropax – „Frieden für die Ohren“. Frieden, das bezog sich damals noch auf den Schutz vor Krach und Explosionen der Kanonen im Ersten Weltkrieg, wo die Stöpsel aus Baumwolle, Vaseline und Paraffinwachs vorwiegend zum Einsatz kamen. In den 1920er-Jahren wurde das Produkt dann auch im Stummfilmkino eingesetzt, um das Klappern der Projektoren zu dämpfen. Heute werden sie in Masse produziert und viele Menschen können nicht mehr ohne. 

Seit Corona ist die Nachfrage drastisch gestiegen. „Leute hatten Zeit, sich über ihre Gesundheit Gedanken zu machen“, erzählt Herweg. Innerhalb der letzten drei Jahre hat die Firma ihr Personal verdoppelt – musste sogar in ein größeres Büro ziehen. Ein Kunde habe sich sogar für mehrere Jahre mit Produkten eingedeckt, weil er befürchtete, sie würden ihm ausgehen. Schlaf sei für viele nach wie vor der Hauptgrund für den Kauf. „Die Sensibilität für Vorsorge ist stark gewachsen“, weiß Herweg. Auch bei ihm selbst – denn da war plötzlich dieses Piepen im Ohr, das nicht mehr wegging. 

In Deutschland hinkt das Bewusstsein für die Bedeutung von Ruhe und Erholung noch ziemlich hinterher. „Die Nachfrage nach unseren Ohrstöpseln ist in den Niederlanden fast genauso groß wie hierzulande, obwohl das Land nur 18 Millionen Einwohner hat.“ Liegt wohl an der Einstellung: „In den Niederlanden achtet fast jeder auf seine Ohren, dafür trägt kaum einer Fahrradhelmâ€â€¦

Foto: Alpine

Ohrstöpsel gegen Schlaflosigkeit? Es gibt sie wie hier im Standarddesign to go oder individuell ins Ohr gegossen.

Schwerpunkt Gereizte Gesellschaft

Holt mich hier raus!

Alles dröhnt: Unruhe, Nervosität, Gereiztheit – die Spannung in der Gesellschaft nimmt zu. Wie kommen wir da raus? Wir haben uns auf die Suche gemacht. Studien gewälzt, Expert:innen aus Soziologie, Psychosomatik und Philosophie gefragt und Initiativen aufgespürt, die Wege aus der gereizten Gesellschaft weisen.

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