Manchmal ist es kaum noch auszuhalten. Eine neue Welle der Gewalt in Gaza, Krieg im Sudan. Brände verwandeln Teile Kaliforniens in Asche, ein wütender Präsident schasst mit schnellen Dekreten Hunderte unliebsame Verwaltungsmitarbeitende, will Migrant:innen aus dem Land jagen, Grönland annektieren, macht Politik mit einem Multimilliardär, der der Rechtsaußenpartei in Deutschland weiter so! zuschreit. Der Bundestag vibriert von aggressivem Parteigebell, die Zahl der Ordnungsrufe hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht, Rechtspopulist:innen dominieren Debatten und Medienaufmerksamkeit, die Sozialen Medien drehen auf, multiples Krisengezänk legt sich über das Land, Brandmauer, Heizungsgesetz, Magdeburg, Merz, es stresst Politik und Bürger:innen, stoppt Miteinander, Austausch, Verständigung. Ohnehin Wirtschaftsflaute, Fachkräftemangel, Jobstress. Ach ja, noch schnell das Kind aus der Kita holen, wieder früher Schluss, Erzieher:innen fehlen. In der U-Bahn kurzer Blick aufs Smartphone, erneut Sanitäter:innen angegriffen, Politiker:innen attackiert, eine Brücke eingestürzt. Das Kind weint, sei doch mal ruhig. Warum drängelt der Typ hinter mir so? Hey, pass mal auf, komm mir nicht zu nah.
All das macht uns irre.
Darauf weisen Daten hin. Nach einem Bericht zur psychischen Gesundheit des Robert Koch Instituts haben sich seit 2021 „Nervosität, Ängstlichkeit, Anspannung“ verdoppelt, vielen Menschen gelingt es nicht mehr, ihre „Sorgen zu stoppen oder zu kontrollieren“. Manche verfolgen sie bis in die Nacht, Schlafstörungen haben seit 2012 um 36 Prozent zugenommen. Die Gedanken rotieren in einer Endlosschleife, die Psyche vibriert. Einige schaffen es da kaum noch zur Arbeit. Laut DAK Krankenkassen stieg die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen in den vergangen zehn Jahren um 52 Prozent. Besonders schlecht geht es Kindern und Jugendlichen. 70 Prozent sind nach aktuellen Untersuchungen des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) psychisch gestresst, deutlich mehr als vor der Corona-Pandemie leiden an Depressionen, Angst- und Essstörungen. 20 Prozent fühlen sich laut BMFSFJ-Einsamkeitsbarometer 2024 einsam. Wohin man schaut, die mentale Gesundheit in Deutschland scheint auf einem Tiefststand. Zu viel Stress da draußen, zu viel Stress in uns drin. Ansprüche türmen sich, Beruf, Familie, gefühlter Druck. Für viele wird der Alltag zu einem Balanceakt inmitten von Krisen und Erwartungen. Zwei Drittel der Menschen im Land empfinden sich laut einer Umfrage der Plattform YouGov als gestresst oder sehr gestresst.
Was ist hier los, Herr Schmidt?
Er muss es wissen, seit mehr als vierzig Jahren analysiert er die psychische Befindlichkeit von Menschen im Land. Hans Ulrich Schmidt ist Professor für Musiktherapie an der Universität Augsburg, leitet die Abteilung Psychotherapie am Ambulanzzentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Fachbereich Psychosomatik, und betreibt nebenher eine kleine Privatpraxis. An einem Freitag im Januar grüßt er freundlich aus dem Zoomfenster, umrahmt von Bücherregalen und einem Klavier. Seine Diagnose: „Die Menschen befinden sich in einem gereizten Dauerspannungstonus, sie sind ständig unter Strom. Die äußeren Reizfaktoren, die sie stressen – und die wir in der Psychotherapie tendenziell unterschätzen – haben immens zugenommen“, so Schmidt. „Das beginnt mit Corona, gefolgt vom Ukraine-Krieg und endet bei der aufgeheizten politischen Stimmung weltweit. Selbst einigermaßen ausgeglichenen Menschen fällt es schwer, da nicht mehr gereizt zu sein.“ Hinzu komme eine chronische Verunsicherung, die einen fürchten den Verlust von Privilegien in einer Zeit voller Erschütterungen, die anderen quälen reale Existenzängste.
Zu Beginn der Pandemie, sagt Schmidt, hätten vor allem Angststörungen zugenommen. Als klarer war, wie sich Corona bewältigen ließ, gingen sie wieder zurück, dafür wurden depressive Störungen prägend. Die Sorge um das wirtschaftliche Überlegen in der Pandemie, Alltagsbewältigung in der Familie, das ewig Digitale der Beziehungen. Die Folge: chronische Erschöpfung, Verbitterung, Schlafstörungen. Gleichzeitig beobachtet Schmidt einen „Wandel der Beziehungskultur“: „Viele Patient:innen haben heute noch weniger Kontakte als vor der Pandemie, sie machen Dinge eher mit sich selbst aus.“ Was Schmidt daran Sorgen macht: Der Rückzug mag manchen durchaus entsprechen – eigentlich nervten Small Talk und Kneipenabend schon immer, lieber ein gutes Buch auf dem Sofa lesen –, doch eines ist wissenschaftlich belegt: Gute soziale Bindungen, Austausch mit anderen, sind ein wichtiger Faktor für den Erhalt der psychischen Gesundheit, sogar der körperlichen.
Wie hilflos die Menschen zunehmend sind, mit dem „Dauerspannungstonus“ klarzukommen, zeige sich an einem anderen Phänomen, das er „mit aller Vorsicht“ beobachtet: „Fast jeder dritte Patient in der Therapie kommt mit der Vermutung, er habe ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. ADHS hat auch biologische, genetische Ursachen, man kann sie medikamentös behandeln. Das entlastet und erklärt vielleicht die eigene Überreiztheit.“ Verständlich einerseits, doch Schmidt warnt auch: „Wir neigen derzeit dazu, Leiden in Diagnosen zu packen und behandeln zu lassen. Aber ist unsere Anspannung nicht auch eine angemessene Reaktion auf die Welt, wie sie gerade ist?“
Erschöpft und veränderungsmüde
Zeit für einen Schlenker zu den Profis für die Diagnostik der Gesellschaft als Ganzes, den Soziolog:innen. Der Bielefelder Forscher Klaus Hurrelmann zum Beispiel hat Dutzende Daten ausgewertet, sein Fazit: eine „erschöpfte Gesellschaft“. In Interviews spricht er von „einem Ohnmachtsgefühl, das sich in der Coronazeit festgesetzt“ habe. Die Gesellschaft zeige „Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung“, die sich kaum bearbeiten lassen. Immer wieder kommt etwas dazwischen, das man nicht beeinflussen könne. „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“, nennt das sein Frankfurter Kollege Stephan Lessenich, denn die Normalität, wie wir sie bisher kannten, erodiert. Durch die Klimakrise implodiert der Handlungsdruck, an allen Ecken muss gleichzeitig geschraubt werden. Das macht porös. Und so werden Aufregerthemen leicht zum Brandbeschleuniger im Diskurs, egal ob am Küchentisch oder im Plenarsaal. „Triggerpunkte“ nennt sie der Berliner Soziologe Steffen Mau in seinem 540 Seiten starken, gleichnamigen Buch. Denn obwohl sich die Einstellungen der Menschen in Deutschland weniger unterscheiden als vermutet, fahren sie bei einigen Aufregerthemen aus der Haut. Tempolimit, Bürgergeld, Gendersternchen. Das Spiel mit den Triggern sei längst Mittel der Politik geworden, so Mau, Polarisierung wird befeuert, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Die Gereiztheit ist, wenn man so will, inszeniert.
Nun waren auch andere Zeiten voller Unruhe, Stress, Anspannung. Die Phase um die Weltkriege Anfang des 20. Jahrhunderts etwa beschreiben Historiker:innen als Epoche der Erregung. Neue Industrien, Krach in den Städten, schnaufende Züge, knatternde Autos. Zeitgenossen wie Psychoanalytiker Sigmund Freud oder Literaturwissenschaftler Paul Binswanger charakterisierten die Moderne als Zeitalter der Nervosität. Und auch das Klima um die Student:innenproteste in den 1960ern oder in den friedensbewegten 1980ern mit ihren wilden Debatten über die Stationierung der Pershing-II-Raketen im Kalten Krieg war erhitzt, zuweilen aggressiv. Ist die Lage heute wirklich anders?
Anruf bei Bernhard Pörksen. Er gehört zu den führenden Medienwissenschaftlern der Republik und beobachtet ihren Gemütszustand seit Jahren. „Ja, sie ist anders. Denn mehrere Effekte beschleunigen sich gegenseitig“, sagt Pörksen. „Zum einen erreicht uns durch die mediale Vernetzung auf den sozialen Medien das Weltgeschehen permanent und so unmittelbar, dass wir kaum noch eine Chance haben, uns emotional zu distanzieren.“ Dieses Phänomen hat er schon 2018 in seinem Buch Die große Gereiztheit beschrieben. „Auf diese Direktheit der Konfrontation prallt jetzt die extreme Verdichtung multipler, fundamental bedrohender Krisen, die wir nur mit globaler Kooperation lösen können, von Klimaschutz bis neuer Sicherheitsarchitektur, während wir gleichzeitig einen Reformstau beobachten, der an der Lösungskompetenz der Politik zweifeln lässt.“ Fazit: „Diese Kombination verstört zutiefst.“
Wie kommen wir da raus? Schwierig, so Pörksen, denn Social-Media-Plattformen machen das öffentliche Gespräch über die Lösungen von Krisen immer komplizierter. „Sie haben ein Universum geschaffen, das dieses Gespräch nach den Prinzipien der Werbeindustrie reorganisiert und User:innen bei der Stange hält durch aggressive Zuspitzung und Algorithmen, die mit immer neuen Erregungsstichflammen Krawall stiften sollen.“ Die Folge: Die einen haten mit, die anderen versuchen Nachrichtenströmen und fauchendem Dauertalk auszuweichen, bitte endlich mal off, gern mit einer Dosis Wellness. Pörksen hält das für nicht weniger fatal. „Quer durch alle Altersklassen hat sich ein Digital-Detox-Spießertum entwickelt. Das Informationsproblem wird zu einem Wellnessproblem für den Einzelnen umdefiniert. Totalabschottung, Rückzug in den eigenen Seelengarten.“ Nicht zufällig boomen Achtsamkeitsindustrie, Ratgeberliteratur und Feelgood-Seminare. „Das ist gefährlich, denn wir müssen als Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch kommen: Was wollen wir, wo geht die Reise hin?“, so Pörksen. Eine Balance also finden zwischen Selbstschutz und Auseinandersetzung mit all dem da draußen. Und hier beobachtet Pörksen einen ermutigenden dritten Trend: „Die Massivität der Gereiztheit erzeugt auch ein Bedürfnis nach dem Gegenteil: behutsamem Austausch und ehrlichem Zuhören.“ Auch Workshops für Kommunikationspsychologie und Gesprächstechniken sind gefragt wie nie.

Wie geht es nun weniger gereizt, ganz praktisch? Rezepte hat der Medienwissenschaftler nicht, wie er betont, aber grundlegende Anregungen, die er in seinem neuen Buch Zuhören. Die Kunst sich der Welt zu öffnen mit einigen Buzzwords in den Ring wirft. Vom Ich-Ohr zum Du-Ohr zum Beispiel. Heißt: weniger sich selbst zuhören, sich in die eigene Blase einkuscheln, sondern „die Welt in ihrem grummelnden Durcheinander erst mal kommen lassen“. Statt mit „kommentierendem Sofortismus“ von Beginn an das Urteil im Kopf zu haben und dem Gegenüber ein Etikett aufzupappen – woke Tugendterrorist:innen, alter weißer Mann, irre AfD-Wählende –, das Zögern lernen, Nuancen erkunden und erst am Ende eines Gesprächs urteilen, wenn nötig, natürlich, scharf. „Es ist Zeit für ein neues Wahrnehmungstraining.“
Philosophie statt Innovation
Wenn wir besser miteinander ins Gespräch kommen, sind vielleicht andere Narrative möglich als die Dauer-Erzählung vom Niedergang, bei der inzwischen jede:r abschaltet. Der Schweizer Ethiker Mathias Lindenau schlägt in seinem Buch Endzeitstimmung? Vom Umgang mit einer verunsicherten Welt vor: Lasst uns die Philosophie nutzen. Die westlichen Gesellschaften sieht Lindenau „in einer Bewusstseinskrise“: „Wir sind noch nicht zum Handeln verdammt, daher können wir uns den Luxus der Gereiztheit erlauben.“ Wie von der Tribüne in einem Fußballstadion beobachten wir die Einschläge der Krisen anderswo in der Welt und ziehen uns schaudernd in uns selbst zurück. Denn wohin auch gehen, ganz genau? Was ist die Vision? „Die nächsten zwanzig Jahre weiter die Geschichte vom Untergang zu erzählen, bringt uns nicht weiter“, sagt Lindenau. „Genauso wenig das Gerede in Wirtschaft und Politik von Innovation.“ Das Wort stammt vom lateinischen Verb innovare, erneuern – also nur etwas Bestehendes aufpeppen. Aus fossilem Wachstum wird grünes Wachstum. „Warum denken wir nicht komplett neu: Was könnte an die Stelle von Wachstum treten? Was würde das konkret bedeuten? Was hindert uns, das umzusetzen?“ Dieses Möglichkeitsdenken lehre uns die Philosophie. Lindenau: „Sie ist wie ein Denkmuskel, der uns wieder Lust auf Utopien macht, sofern wir ihn nutzen.“
In sogenannten Publiforen wird das in der Schweiz bereits erprobt. Menschen in Nachbarschaft und Gemeinde treffen sich zu „zwanglosen, öffentlichen Gesprächen“, einer Art Bürger:innenversammlungen über Grundsatzthemen: Was verstehen wir heute unter Leistung, wie definieren wir Gemeinwohl? Die Idee: Zurück auf Los. „In den vergangenen Jahren ist uns ein gemeinsames Verständnis der Wirklichkeit abhanden gekommen“, so Lindenau. „Nur wenn wir uns als Gemeinschaft wieder darauf geeinigt haben, was uns wichtig ist, können wir Utopien entwickeln: Wie soll unsere Zukunft aussehen?“
Vielleicht sollten wir die Unruhe als Kraft sehen – sie bereitet uns vor auf einen Wandel. Zeigt, hey, unser Unterbewusstsein hat es längst verstanden: Es ist Zeit für Neues. Kein Grund für einen modernen Kulturpessimismus oder eine seufzende „Emotionalisierung der Gegenwart“, sagt der Schweizer Philosoph Dominique Kuenzle, die den Einzelnen vorschnell die Schuld für ihre Gereiztheit in die Schuhe schiebt: Bleibt doch mal locker. Wir haben ja Grund, uns aufzuregen, die Krisen sind real. Statt Opium fürs Volk braucht es jetzt neues Miteinander, neue Freude am ruhigen, kritischen Diskurs, am kollektiven Anpacken. Es gibt längst Menschen, die Wege zu mehr Ruhe in der Gesellschaft suchen, gegen den Lärm in den Städten, das Getöse im Gespräch. Wir haben uns nach ihnen umgeschaut.