Ist die Zeit der Utopien vorbei?
Eva von Redecker: Keineswegs. Utopien, die einfache Versprechungen machen, sind sicher zu Recht diskreditiert. Ein schönes Bild von einer besseren Zukunft zu zeichnen und vorzugeben, man könne einfach so in diese andere Zukunft reinspringen, funktioniert nicht. Ich spreche daher lieber von vorausweisenden Zwischenräumen. Damit meine ich konkret verwirklichte Momente und anschlussfähige Praktiken. Sie müssen wir aufspüren. Der Veränderungsdruck ist gewaltig. Sehr viel mehr Menschen als vor 30 Jahren sind sich einig, dass wir schnell aus unserer derzeitigen Lebensform aussteigen müssten.
55 Prozent der Deutschen sind laut US-„Trust Barometer“ der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft.
Ulrike Guérot: Eine Gesellschaft, die utopielos ist, geht unter. Wie Wanderer in der Wüste brauchen wir einen Stern am Firmament, einen Kompass, der uns den Weg weist. Wer ohne Kompass in der Wüste losgeht, nach dem Motto „pragmatisch sein“, endet am Ende des Tages genau da, wo er losgelaufen ist. Derzeit haben wir nur noch Dystopien um uns herum, die großen Gesellschaftsentwürfe sind alle abgefrühstückt. Christentum – zumindest die Kirche –, die Französische Revolution, der wissenschaftliche Marxismus oder Sozialismus, nichts mehr entfacht Sehnsüchte. Literatur, Film und Science-Fiction bieten vorwiegend Bilder einer völlig verschmutzten Erde und ein paar weniger Menschen, die sich retten. Das kommt in unserem Nervensystem an, daraus erwächst der Wunsch nach Utopie.

Eva von Redecker
Eva von Redecker ist Philosophin und Marie-Curie-Fellow an der Universität Verona. Sie forscht zu Autoritarismus und gilt als eine der führenden Kapitalismuskritiker:innen in Deutschland.
Ulrike Guérot
Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und Professorin am Departement für Europapolitik und Demokratieforschung der Donau-Universität Krems. Sie tritt leidenschaftlich für die Idee eines solidarischen, gemeinwohlorientierten Europas ein.Verändern Utopien überhaupt etwas?
Guérot: Natürlich. 1789 war ein utopischer Moment. „Alle Menschen sind frei geboren und gleich an Würde und Rechten“ – das war noch zu Zeiten des Sonnenkönigs blanke Utopie. Auf einmal werden aus Untertanen Bürger, die packen die Mistgabeln und setzen das durch. Das ist seitdem konstitutionalisiertes Menschenrecht. Oder der Kampf der Suffragettenbewegung für das Frauenwahlrecht. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie utopisch das damals war. Und dann wurde es 1918 einfach eingeführt.
Redecker: Für mich ist Utopie mehr als ein Leitwert für die Zukunft. Sie sollte eine detailreiche, verlockende Vorstellung davon entwickeln, wie man leben könnte. Eher das Schlaraffenland als „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Ich denke auch, dass Ideen in der Rückschau oft wirkmächtiger erscheinen als sie es waren. In der Französischen Revolution haben vermutlich viele ganz und gar unutopische Zufälle den Ideen zum Durchbruch verholfen. Die Hasskampagne gegen Marie Antoinette etwa war vermutlich viel wirkmächtiger als die neue Vorstellung von Menschenrechten von einer kleinen Juristengruppe. Auch in den Beschwerdeheften, die am Anfang der Revolution in ganz Frankreich ausgelegt wurden, finden sich nur sehr moderate, alltagspraktische Forderungen. Nichts Utopisches. Das Revolutionäre war eher die Form der Versammlung. Dass plötzlich Leute zusammenkamen und nach ihrer Meinung gefragt wurden, hat die VolkssouveränitÃ…
Frauen sind treibende Kraft in der Entwicklung von Alternativen für unser menschenfeindliches Wirtschaftssystem. Auch in der Digitalisierung könnten feministische Einflüsse eine zentrale Rolle spielen. (Symbolbild)