Herr Sauer, seit 2011 ist die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. Nun werden die Stimmen lauter, die junge Menschen wieder zum Dienst an der Waffe einziehen wollen. Denn die Sicherheitslage habe sich dramatisch geändert, in einigen Jahren könnte Wladimir Putin ein Nato-Land angreifen, schätzt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Auch ehemalige Wehrpflichtgegner wie der Grünen-Ex-Außenminister Joschka Fischer sprechen sich mittlerweile für eine Wehrpflicht aus. Nur so sei die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu gewährleisten. Was halten Sie davon?
Frank Sauer: Die Sicherheitslage hat sich in der Tat dramatisch geändert, daher finde ich wichtig, dass wir jetzt offen diskutieren: Wie kann Deutschland verteidigungsfähig werden? Ich halte aber die alte Wehrpflicht für den falschen Weg. Stattdessen plädiere ich für eine neue allgemeine Dienstpflicht, die sich nicht nur auf die Bundeswehr bezieht, sondern genauso die zivile Verteidigung umfasst und Katastrophenschutz, also Technisches Hilfswerk, Feuerwehr, Rotes Kreuz, die sogenannten Blaulichtorganisationen. Wir müssen auf allen Ebenen widerstandsfähiger, krisenfester werden. Es reicht nicht, nur an die Bundeswehr zu denken.
Dienstpflicht, ja/nein?
Ja, sagt Frank Sauer, Politikwissenschaftler, Schwerpunkt Internationale Sicherheitspolitik, an der Universität der Bundeswehr München.Warum nicht?
Sauer: Die Bundeswehr hat zwei Probleme: zu wenig Geld und zu wenig Personal. Am ersten Problem würde eine Wehrpflicht nichts ändern. Stattdessen bräuchte es zunächst einen Verteidigungshaushalt von dauerhaft mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes, um finanzielle Planungssicherheit zu haben. Auch Problem zwei, den Personalmangel, löst eine Wehrpflicht nicht unbedingt. Der Bundeswehr fehlen vor allem die Mannschaftsdienstgrade: Soldat:innen, die Panzer fahren oder auf Fregatten, im Sanitätsdienst, bei der Cyberabwehr Dienst tun und sich dazu längerfristig verpflichten. Das tun die wenigsten. Wer länger dabei bleibt, will eher Offizier:in werden. Und die haben wir genug. Heute gibt es noch genauso viele Generäle wie im Kalten Krieg – bei einer dreimal kleineren Bundeswehr. Problem eins und zwei sind verknüpft, etwa wenn wir an Investitionen in Infrastruktur denken: Wer hat schon Lust, sein Berufsleben in abgeranzten Kasernen mit verschimmelten Duschen, Mobiliar aus den 1970ern und ohne WLAN zu verbringen?
Theresa Caroline Winter: Klar, deshalb muss die Bundeswehr dringend bessere Arbeitsbedingungen bieten. Flexiblere Einsatzmöglichkeiten, weniger Bürokratie, bessere Ausstattung. Für mich ist zudem entscheidend: Wir brauchen ein neues inhaltliches Konzept für die Bundeswehr. Was soll sie leisten, wie muss sie dafür aussehen? Bis 2011 wurden die Wehrpflichtigen hauptsächlich für den Auslandseinsatz vorbereitet, den Einsatz im Internationalen Krisenmanagement (IKM). Eine Armee für die Landesverteidigung schien nicht mehr nötig. Das ist jetzt komplett anders. Daher müssten wir die Ausbildung neu denken, statt über die Rückkehr zur Wehrpflicht zu debattieren, die ineffizient wäre. Allein die Finanzierung der Ausbilder:innen, neue Kasernen, der Aufbau der ganzen Musterungsinfrastruktur wäre ungeheuer teuer. Reformansätze gibt es ja. 2021 hat die Bundeswehr eine Kampagne gestartet, sie hieß „Dein Jahr für Deutschland“: 7 Monate Grundausbildung plus insgesamt 5 Monate Übungen oder Einsätze, die über sechs Jahre flexibel stattfinden können. Stationierung in Heimatnähe. Auch hier ist das Ziel, junge Soldat:innen anschließend länger für die Reserve zu verpflichten.
Dienstpflicht, ja/nein?
Nein, sagt Theresa Caroline Winter, Expertin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Berlin.Aber offenbar entscheiden sich dafür wenige …
Winter: Kein Wunder. Wir sind noch in der Pilotphase, 2021 war Corona, strukturelle Veränderungen aber brauchen Zeit. Werbung an Schulen ist zudem immer noch Tabuthema, selbst sicherheitspolitische Bildung oft kaum Teil des Curriculums. Wenn es immer gleich aufgeregte Debatten über eine Militarisierung der Gesellschaft gibt, sobald Jugendoffizier:innen in Uniform an die Schulen gehen, um von der Arbeit der Bundeswehr zu erzählen oder von UN-Missionen, ist das total kontraproduktiv. Wer will da freiwillig hin, sich gar verpflichten, wenn wir uns ständig distanzieren?
Sauer: Sie rühren da an einem entscheidenden Punkt. Die Zeitenwende erfordert ein grundsätzliches Umdenken: Wir alle müssen wehrhafter werden und etwas für unsere Sicherheit nach innen und außen tun. Für mich gehört dazu mehr als das Militär: Katastrophenschutz, Feuerwehr, Cybersicherheit, Umgang mit hybriden Angriffen auf Zivilgesellschaft und Staat. Anfang Juni waren weite Teile Süddeutschlands überflutet, und das ist in Sachen Klimakrise erst der Anfang. Solche Ereignisse werden die Sicherheit in der Gesellschaft zunehmend bedrohen. Wir können dann nicht immer die Bundeswehr rufen, sie hat ja noch viele andere Aufgaben. Daher brauchen wir Menschen, die in Blaulichtorganisationen erst einen Pflichtdienst leisten und dann möglichst im Ernstfall anpacken. Freiwillig wird das nicht gehen. Deshalb plädiere ich für eine allgemeine Dienstpflicht, ein Jahr für alle 18-Jährigen in solchen Organisationen oder beim Militär. Meines Erachtens können wir nur so die Resilienz in der Bevölkerung insgesamt erhöhen.
Meinen Sie damit eine Art Zivildienst wie das Gesellschaftsjahr in sozialen Einrichtungen von Pflege bis Krankenhaus, das etwa die CDU wiederbeleben will?
Sauer: Ob man soziale Einrichtungen miteinbezieht, wäre noch zu diskutieren. Engpässe wie der Pflegenotstand ließen sich damit ohnehin nicht abfedern. Mir geht es im Kern um Resilienz, also Krisenfestigkeit und Widerstandskraft. Wie wichtig dieses Thema im 21. Jahrhundert wird, unterschätzen wir extrem.
Winter: Sie wollen alle 18-Jährigen auf ein Jahr verpflichten? Das halte ich nicht für sinnvoll. Zum einen ist es nicht fair, so einen Dienst nur jungen Menschen aufzudrängen. Wem ist damit gedient, sie in Aufgaben zu zwingen, die sie dann vielleicht nur absitzen? Zum anderen glaube ich nicht, dass so eine Dienstpflicht das Bewusstsein für die wachsende Bedeutung von ziviler Sicherheit in der Gesellschaft erhöht. Wir wissen aus Studien, dass sich gerade die Jungen durchaus bewusst sind, welche Probleme angesichts von Klimakrise und einer Weltordnung im Wandel auf uns zukommen. Statt sie in ein Pflichtjahr zu zwingen, sollte sicherheitspolitische Bildung an Schulen Pflicht werden, vom Umgang mit Desinformation über Cybersicherheit bis zu Energieknappheit und Umweltkatastrophen. Arbeitgeber:innen sollten zu Schulungen für die Älteren, die bereits im Beruf sind, verpflichtet werden.
Sauer: Frau Winter, ich will den Jungen auch nicht die ganze Last aufpfropfen, oft fehlt Krisenbewusstsein in der Tat den Älteren. Doch letztlich sehe ich überall einen Hang zur Realitätsverweigerung. Das können wir mit ein paar Workshops nicht knacken. Das geht – wenn überhaupt – nur durch eine Pflicht, gern auch für alle Altersklassen. Sicher ist: Wir müssen uns auf die neuen Realitäten vorbereiten. In den nordischen Staaten spricht man von „Comprehensive Defense“, bei uns heißt es Gesamtverteidigung. Was machen wir, wenn der Strom während einer Wetterkatastrophe tagelang ausfällt oder kein Wasser mehr aus dem Hahn kommt? Wo können sich die Menschen in einer akuten Krise in Sicherheit bringen, wo bekommen sie Wasser, warme Decken, eine Suppe, News über die aktuelle Lage, wenn das Handy entladen ist und sie kein Kurbelradio im Keller haben? Schon solche Fragen rufen einen Aufschrei im Land hervor: „Hilfe, Prepper-Fantasien!“
Winter: Die Idee eines Dienstjahres finde ich zwar grundsätzlich gut, gerade wenn wir Menschen motivieren können, nach so einem Jahr freiwillig auch in die Reserve zu gehen. Um zum Beispiel Urlaubsvertretungen zu übernehmen, einzuspringen beim Technischen Hilfswerk, die Verantwortung für eine Lazarettleitung im Ernstfall zu üben. Aber noch mal: Ich halte eine Pflicht wirklich für absolut falsch. Wie wollen Sie das organisatorisch wuppen? Schon jetzt kann allein die Bundeswehr von den 1.000 Bewerber:innen im Jahr für den Heimatdienst nur 100 aufnehmen, weil sie die Bearbeitung nicht schafft. Mit einer Dienstpflicht für militärische und zivile Einsatzfelder würde es noch viel komplizierter. Das wird wahnsinnig teuer. Dieses Geld sollten wir lieber einsetzen, um Strukturen und Ausstattung von militärischen Organisationen und Blaulichteinrichtungen zu verbessern. Dann kommen sie auch gern freiwillig. Und Freiwillige sind viel motivierter.
Sauer: Wir brauchen ein umfassendes Engagement für mehr Krisenfestigkeit und Verteidigung in der Gesellschaft. Und das ist nur mit einer Pflicht zu schaffen, die natürlich Geld kostet. Aber wenn wir im Katastrophen- oder gar Verteidigungsfall ohne dastehen, wird es noch teurer. Wir können auch nicht einfach weitermachen wie bisher und sagen: Die Bundeswehr als Arbeitgeberin muss attraktiver werden – ja, muss sie, aber das reicht nicht. Bundeswehr und Blaulichtorganisationen sind eben keine klassischen Arbeitgeber:innen. Also bleibt nur, den Leuten ins Hirn zu hämmern: Das ist der Ernst der Lage, deshalb müssen wir ran – verpflichtend. Frauen, Männer, alle.
Winter: Dann müssen Sie da aber auch gesamtgesellschaftlich ran, Herr Sauer. Was halten Sie von einem freiwilligen halben Jahr für alle bis 60 oder 65 Jahre statt einem Jahr Pflicht nur für die 18-Jährigen? Dann könnte man das irgendwann im Leben machen. Viele Arbeitnehmer:innen möchten ja im Laufe ihrer Berufstätigkeit noch mal etwas für die Gesellschaft machen. Das ließe sich wie ein Sabbatical über den Arbeitgeber organisieren. Bei so einer flexiblen, kurzen Variante bin ich sogar willens, über eine Pflicht zu sprechen. Hauptsache, es ist gerecht für alle Generationen und Schichten.
Sauer: Großartig, ich bin dabei. Aber wenn Mitglieder älterer Generationen sagen, ich hab doch schon mal …
Winter: … dann müssen die halt nicht.
Wie organisieren andere Länder zivile Sicherheit?
Winter: In Taiwan etwa gibt es neben der Wehrpflicht viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die hervorragende Trainings für die Zivilbevölkerung anbieten. Die Menschen lernen, zu evakuieren, sich in einem Areal zurechtzufinden, wenn das GPS versagt; was sie tun können, wenn tagelang der Strom ausfällt. Landesweit gibt es ein ganzes Netz solcher Initiativen, die zivile Verteidigung hervorragend organisieren – auf freiwilliger Basis. Allerdings fehlt ein gutes Zusammenspiel mit dem Militär.
Sauer: Wir dagegen haben nach 1989 die Schutzräume zugemauert und die Sirenen abgebaut, um Kosten zu sparen. Ein Bedrohungsbewusstsein, wie es die Menschen in Taiwan, Polen oder Finnland haben, gibt es nicht.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Würden Sie sich für Wehrdienst oder ein anderes Dienstjahr entscheiden, wenn Sie jetzt vor der Wahl stünden?
Winter: Ich würde zur Bundeswehr gehen.
Sauer: Vor meinem Studium war die Wehrpflicht noch nicht ausgesetzt. Äußere Sicherheit war kein Thema, in Europa herrschte Frieden. Ich habe damals verweigert und Zivildienst als Rettungssanitäter gemacht. Das fand ich so gut, dass ich es immer gerne noch mal gemacht hätte. Ob ich heute wieder den Wehrdienst verweigern würde, frage ich mich angesichts des russischen An- griffskrieges schon. Tendenziell nicht, aber abschließend habe ich die Frage für mich offen gesagt noch nicht beantwortet.
Frank Sauer und Theresa Caroline Winter im Streitgespräch über die Notwendigkeit und mögliche Umsetzung einer Dienstpflicht.