Ortsbesuch

Mit Stadtschäferin Hannah Becker auf den Wiesen Berlins

Schafe sind ideale Landschaftspfleger in Metropolen. In der Hauptstadt grasen sie in Stadien und Parks.

Eine Schäferin denkt nicht wie eine Schäferin. Sie denkt, sagt Hannah Becker, wie ein Schaf. Oh, was machen meine Kumpels? Hm, da ist ein Loch im Zaun, ich geh mal gucken. He, Achtung, komm mir nicht so nah. Huch, es klappert. Mais vielleicht?

Becker lacht, schnappt den Eimer mit Mais und läuft klappernd auf die große Wiese, in deren hinterster Ecke dunkle Büschel stehen, bereit für den Abtransport zu ihrer nächsten Weide: Wilmersdorfer Eisstadion, Berlin Zentrum. Die Büschel bewegen sich, nein, sie rennen, hallo Schäferin, denken die Büschel womöglich, hallo Leute, sagt Becker, dreht sich um und läuft schnellen Schrittes Richtung Unterstand mit noch mehr Mais, den Mitarbeiter Willi Kutschan gerade in eine Kunststoffrinne am Boden geschüttet hat.

Die Büschel, jetzt klar erkennbar, sind Schafe und dicht auf Beckers Fersen, schon laufen sie an ihr vorbei zum Futtertrog. Dann ist da eine Weile nichts als Kauen. Flink ziehen Becker und Kutschan einen ausrollbaren Zaun um die Herde, fahren den Anhänger vor, bauen aus Gittern einen Gang zur Rampe. „Einsteigen bitte“, ruft Becker im Deutsche-Bahn-Ton und die Schafe steigen ein, Füchschen, die Rostrote, zuerst. „Man braucht Schafe wie sie. Ranghöher, neugierig und zuverlässig.“ Und schon sind alle da. Ein Rennen, Drängeln, Ruckeln, vorn ist noch Platz im Anhänger, hinten stapeln sich die Schafe fast übereinander. „Wie in der Schule – keine:r will vorne sitzen.“ Kutschan und Becker schieben, drücken, stopfen. „Durchgehen, bitte.“ Tür zu, fertig. Auf nach Berlin.

Hannah Becker ist Schäferin. Keine mit klassischer Ausbildung zur „Tierwirt/in Schäferei“, wie die Berufsbezeichnung offiziell heißt. Sondern Agrarwissenschaftlerin, Bereich Grünlandentwicklung, Schwerpunkt Tiermanagement, Unterschwerpunkt Schafe. Seit fünf Jahren arbeitet die 37-Jährige für den Hof Döberitzer Heide nordwestlich von Berlin und kümmert sich um die Tiere des Betriebs. Zebu-Rinder, Galloways, Wildpferde und vor allem: Schafe. Seit April hat sie eine besondere Aufgabe: Mit ihren Herden beweidet sie Berlin. Als Stadtschäferin.

Hannah Becker ist Agrarwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Tiermanagement. Foto: Anja Dilk

Stadtnatur ist ein wertvolles Gut. Die grünen Flächen der Städte brauchen kluge, naturgerechte Pflege. Parks, Seitenstreifen, Wiesen an Sportanlagen. Denn längst ist klar, dass große Maschinen Insekten schreddern, Biodiversität vernichten, die Böden verdichten, bis da nichts mehr lebt. „Schafe dagegen sind Landschaftspfleger“, sagt Becker. Zum einen tragen sie in ihrem Fell Samen weiter. Zum anderen mähen sie so schonend und effektiv die Flächen wie es kein Groß-Rasenmäher je könnte. Denn Schafe mähen, sagen wir: differenziert.

„Die Rassen unserer Herden haben unterschiedliche Fressvorlieben“, erklärt Becker. Schwere Gotlandschafe sind radikal, sie mögen die robuste Brombeere und fressen selbst Büsche bis zum Grund ab. Pommernschafe lieben Gräser und Kräuter. Haarschafe essen nur bodennah; was höher wächst, lassen sie stehen. „Damit kann ich bei der Zusammenstellung einer Herde spielen, je nachdem was auf der Fläche entstehen soll.“ Nimmt die unkrautartige Goldrute überhand in einem Areal, müssen die Gotlandschafe ran; sollen die harten Stängel der Büsche stehen bleiben, um noch mal auszutreiben, sind die Haarschafe ideal; gilt es, große Gräser zur Eiablage von Insekten stehen zu lassen, passt das Weidebuffet optimal zu den Pommernschafen.

„Mit den Fressvorlieben der Rassen kann ich bei der Zusammenstellung von Herden spielen, je nachdem, was wachsen soll“
Hannah Becker, Schäferin

Der Pick-up rumpelt zum Betriebsgelände des Hofs, im Anhänger trappeln Hufe auf der Stelle. Becker tankt noch schnell am Tankwagen neben der Scheune, pumpt frische Luft in die Reifen, startet das Navi und nimmt Kurs auf die Autobahn. Im Anhänger ist jetzt Ruhe. „Das Schaukeln ist wie eine Wiege“, sagt Becker. „Und die Schafe wissen: Gleich gibt’s was Leckeres.“

Hannah Becker liebt Schafe. Welches Tier sonst gibt Wolle und Milch, kann besser klettern als eine Kuh, ist leicht und doch robust, ruhig, sozial und menschenlieb? „Unfassbar tolle Tiere“, sagt Becker. Aber, blöde Frage wahrscheinlich, sind Schafe nicht ein wenig schlicht? Becker rollt die Augen. „Unsere alten Rassen sind klug und können sich schnell auf neue Situationen einstellen. Nur den hochgezüchteten Schafen wird die Intelligenz gezielt abgezüchtet. Dümmer ist leichter zu handhaben.“ Nach dem Studium hat Becker selbst am Bodensee eine kleine Zucht begonnen. Ihr erstes Schaf, Mora, die Dunkle, lebt heute noch. Für den Job in der Döberitzer Heide zog Becker mitsamt Herde nach Brandenburg. Gut zwanzig Schafe waren es damals, heute sind es über hundert. Wenn sie Freund:innen aus Süddeutschland erzählt, dass sie nun Stadtschäferin ist, schütteln die die Köpfe – was bitte?

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Fotos: Anja Dilk

Städte sind ein spannendes Biotop, oft vielfältiger als das Land voller industrieller Äcker. Schafe helfen dabei die Biodiversität zu erhalten, denn durch ihr Abgrasen mähen sie schonend die Wiesen.

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