Umgang mit Ukraine-Krieg

Europe divided, Europe united

Es herrscht Krieg in der Ukraine und der ganze Kontinent ist in Aufruhr. In Deutschland wird stündlich über die Lieferung schwerer Waffen, Versorgungssicherheit und die Inflation diskutiert. Wie sieht es im Rest der EU aus? Was bewegt die Menschen? Hier kommen fünf Politiker:innen und Aktivist:innen zu Wort.

Barcelona

Nerea Blanqué-Catalina, 45, Europa- und Umwelt-Aktivistin:

„Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Krise das Land mal so aufgerüttelt hätte wie diese. Weder die Finanzkrise noch Syrien. Die Angst vor einem Atomkrieg ist groß. Selbst auf dem Schulhof ist der Krieg in der Ukraine Thema Nummer eins, mein Neffe will deshalb schon nicht mehr in die Schule gehen. Es gibt viele ukrainische Arbeiter:innen in Spanien. Mein Mann ist Unternehmer, er hat dort zwei Jahre lang gearbeitet. Wir haben seinem ehemaligen Geschäftspartner sofort angeboten, zu uns zu kommen. Aber er wollte in der Ukraine bleiben.

Ich habe schon das Gefühl, dass Europa näher zusammenrückt. Aber die EU tut nicht genug, auch unsere Regierung nicht. Die Sanktionen werden nur halbherzig umgesetzt. Der Hafen von Barcelona ist voller dicker russischer Yachten. Warum hat man die Russen damit ziehen lassen, statt sie zu beschlagnahmen? Ich habe viel Vertrauen in die Politik verloren. Ich wünsche mir eine bessere EU. Dafür setze ich mich ein, nehme an Debatten zur EU-Politik teil, organisiere Twitterdiskussionen und Demos zum Umweltschutz.“

Athen

Yanis Varoufakis, 61, Wirtschaftswissenschaftler, Ex-Finanzminister von Griechenland, heute Vorsitzender der paneuropäischen Partei MeRA25 im griechischen Parlament:

„Als es in der Ukraine losging, hatten die Leute das Gefühl, der Krieg kommt über uns. Aber schon nach ein paar Tagen drehte sich alles um die Explosion der Energie- und Lebensmittelpreise. Nach vierzehn Jahren Krise hat der Krieg in der Ukraine unserem Land den Rest gegeben. Achtzig Prozent der Haushalte haben so wenig Geld, dass sie spätestens Mitte des Monats blank sind. Ich war gerade in Westgriechenland unterwegs und habe dort mit vielen Leuten auf der Straße gesprochen. Wenn ich dann von grüner Transformation, Europa oder der Weltordnung anfange, schauen die mich fassungslos an: Du machst dir Gedanken um das Elend der Welt, wo ich nicht mal weiß, wie ich den Rest der Woche überstehen soll?

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Die griechische Dauerkrise hat die Menschen sehr skeptisch gegenüber den großen Erzählungen der Politik gemacht. Sie erkennen in Putin ein Monster, sehen aber gleichzeitig die Scheinheiligkeit der EU.

Ich wünschte, wir hätten eine Europäische Union. Aber wir haben nur eine Institution, die sich so nennt. Nach der Finanzkrise hatten wir die Gelegenheit, eine fantastische EU zu kreieren. Stattdessen gab es einen Bruch zwischen Nord und Süd, der zu einem Bruch zwischen Ost und West wurde. Heute ist die EU fragmentiert und irrelevant auf dem geostrategischen Schachbrett. Ich habe keine Lust mehr zuzuhören, wenn Europapolitiker:innen über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik reden, ohne zu einer echten europäischen Föderation mit gemeinsamer Regierung bereit zu sein.

Für mich ist klar, was die EU tun müsste: den sofortigen Stopp der Kampfhandlungen fordern und im Gegenzug eine neutrale Ukraine garantieren. Wir können nicht Putins Fall verlangen, wenn wir wollen, dass er mit dem Krieg in der Ukraine aufhört. Ein Friedensabkommen muss Garantien des Westens enthalten, eine Vereinbarung, dass die Ukraine sich aus allen Militärblöcken heraushält, so wie Österreich, Schweden und Finnland während des Kalten Kriegs – Länder, die als Teil des demokratischen Westens sehr erfolgreich gediehen, ohne Teil der Nato zu sein. Ich denke, Putin wäre zu Verhandlungen bereit, er braucht einen Weg raus. Dass er als nächstes das Baltikum oder Polen angreifen will, ist Quatsch. Putin ist böse, nicht dumm.“

Friedensdemo gegen den Ukraine-Krieg in Warschau am 9. Mai 2022. Bild: IMAGO / ZUMA Wire

Krakau

Mateusz Gedzba, 38, LGBTIQ-Aktivist, Federation of Equal Signs

„Seit Ausbruch des Krieges hat Polen gut zweieinhalb Millionen Menschen empfangen. Das ganze Land ist aufgeregt, Shopping Malls werden zu Unterkünften, in Krakau schieben sich jetzt jeden Tag so viele Menschen durch die Innenstadt wie zuvor nur sonntagnachmittags auf dem Höhepunkt der Tourismussaison. Bis spät in die Nächte packen Tausende Helfer:innen an, meist nach der Arbeit. Auch wir helfen und da spielt es natürlich keine Rolle mehr, ob die Leute aus der LGBTIQ-Community stammen oder nicht. Langsam aber sind alle einfach wahnsinnig müde.

Die Ukrainer:innen sind unfassbar optimistisch. Neulich lachte mich eine junge Frau an: Mach dir keine Sorgen, in einem Monat bin ich wieder zurück in Charkiv. Der Optimismus, die Energie von Menschen, deren Leben von einem auf den anderen Tag kollabiert ist, beeindruckt hier alle. Als Hitlers Armee unser Land überrannte, hat Polen gerade mal vier Wochen durchgehalten. Darüber sprechen im Moment ganz viele, auch die Jungen.

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Die Einigkeit der EU ist eine schöne Überraschung, mit Ausnahmen wie Viktor Orbán. Aber wirklich zusammengerückt? Eine Illusion. Die Sanktionen werden zu wenig durchgesetzt. In der polnischen Regierung und in Ministerien haben einige Leute verdammt enge Beziehungen zu Russland, sie sahnen auch persönlich ab. Polen macht weiter mit seinem antidemokratischen Kurs. Und um die Geflüchteten hat sich zu neunzig Prozent die Zivilgesellschaft gekümmert, der Regierung fehlt es völlig an Empathie. Sie schickt jetzt sogar die ukrainischen Schüler:innen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen, einfach ins polnische Abi. Wenn du es nicht schaffst, Pech. Dabei können die gar kein Polnisch.

Ich wünsche mir eine tiefere Integration in die EU. Polen ist halbherzig dabei, kein Euro, kein verlässlicher Partner. Natürlich sind Investor:innen skeptisch. Wir sollten uns was vom Baltikum abschauen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 waren das graue Länder am Ende der Welt, heute florieren Tech-Start-ups, die Gesellschaften sind aufgeblüht. Und die Ukraine? Würde sie Teil der EU, wäre das Land die neue Zukunftsregion. Mit so vielen optimistischen Leuten, die verzweifelt ihr Land wieder aufbauen wollen, gelingt alles.“

Brüssel

Sophie Pornschlegel, 32, politische Analystin, European Policy Centre

„Am Tag, an dem der Krieg in der Ukraine über Europa hereinbrach, stoppte das ganze politische Brüssel. In Windeseile wurden Arbeitsgruppen gebildet, Positionen abgestimmt, in unserem Thinktank haben wir Tag und Nacht analysiert: Wie reagieren Staatschef:innen, Rat, Kommission? Dass die EU so schnell und geeint Sanktionen beschließt, Waffen und humanitäre Hilfe schickt, hatte keiner erwartet. Ob es die Gemeinschaft wirklich stärkt, wird sich langfristig zeigen.

In Brüssel bekommt man sofort ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich die nationalen Perspektiven sind, mit denen jedes Land auf den Konflikt schaut. Die Pol:innen sagen: Haben wir doch immer gesagt. Die Skandinavier:innen stellen plötzlich wieder ihre Neutralität infrage. Und die Deutschen sprechen von einer „Zeitenwende“. Für Frankreich war Militär schon immer was Gutes, Präsident Emmanuel Macron macht sich seit 2017 für eine stärkere Verteidigung europäischer Interessen stark.

Nun kommt es darauf an, die nationale Perspektive abzulegen und langfristig eine gemeinsame Richtung zu finden. Welch riesiger Kraftakt das ist, war Ende März wieder spürbar. Nato-Gipfel, Europäischer Rat, G7-Treffen. Alle Staats- und Parteichef:innen und tausend Journalist:innen waren da. Die Stadt quoll über und vibrierte vor Diskussionen.“

Prag

Martin Exner, 59, Bürgermeister des 1.100-Einwohner-Orts Nova Ves, seit Oktober 2021 für die Partei „Bürgermeister und Unabhängige“ im tschechischen Parlament

„Wir waren alle überrascht, dass die ganze tschechische Gesellschaft die Geflüchteten so herzlich willkommen geheißen hat. Unter dem Populisten Andrej Babiš war das 2015 völlig anders. Die Solidarität mit der Ukraine ist überall. Fast alle kennen persönlich Ukrainer:innen, 160.000 ukrainische Arbeiter:innen leben in Tschechien. Vor den Fenstern, Rathäusern, Ämtern hängen ukrainische Fahnen. Viele spenden Geld für Waffen direkt auf das Konto der ukrainischen Botschaft. Manche fahren immer wieder zur Grenze, holen Geflüchtete oder bringen Hilfsgüter.

Das hat auch mit der Geschichte zu tun. Wir haben noch eine offene Rechnung mit Russland wegen 1968, als sie uns mit Panzern überrollten. Ich war damals fünf Jahre alt, die vielen weinenden Erwachsenen werde ich nie vergessen. Insgesamt wurden wir dreimal überrollt, 1938 von den Nazis, 1948 von den Kommunist:innen, 1968 von den Russ:innen. Deshalb wollen wir den Ukrainer:innen zur Seite stehen.

Warum errichten wir nicht wenigstens eine flugfreie Zone in der Westukraine, um einen humanitären Korridor zu sichern? Wir werden es bereuen, wenn wir nicht handeln. Wie damals, als die Welt die Augen vor den Konzentrationslagern verschloss. Ja, es gibt das Risiko einer Eskalation, aber muss es uns das nicht wert sein?

Ich bin leidenschaftlicher Europäer, ich liebe diese Mischung von Nationen in der EU. Aber die EU verschließt die Augen davor, dass sie Verantwortung übernehmen muss. Jahrzehnte hat sie sich auf die USA verlassen. Für Putin war die Zerstörung der Sowjetunion die größte Katastrophe des Kontinents, weil sie ein Vakuum hinterließ. Seit zehn Jahren rechne ich damit, dass Putin so etwas macht. Transnistrien, Tschetschenien, Georgien, Syrien – alle konnten sehen, wo es hingeht. Und viele Europäer:innen glauben immer noch, dass irgendwie alles gut wird.

Ich bin sicher: Wir müssen Putin jetzt stoppen, bevor es zu spät ist. Zur Not mit Militär. Für die EU heißt das: eine Armee aufbauen, ein Außenministerium einrichten, das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen. Wir brauchen echte United States of Europe, nie war die Chance dafür so groß wie jetzt. Die antieuropäischen Strömungen sind zurzeit ganz still. Das internationale System liegt in Trümmern, wir können es auf bessere Weise wieder aufbauen.“

Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Wandmalerei des italienischen Streetart-Künstlers TVBoy in Barcelona.

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