Die runden Welten sind vergilbt und in Messing und Holz verankert. Eine zeigt Tintenblau auf Weiß den Lauf der Sterne, eine andere in fein gestrichelten Linien die Routen, auf denen sich in den 1930er-Jahren Zeppeline ihren Weg durchs Firmament bahnten. Als Wolfgang Crom das Licht im Kartenlesesaal der Staatsbibliothek in Berlin anknipst, leuchtet Globus um Globus auf: Manche der Weltkugeln haben schon Jahrhunderte auf dem Buckel. Einige sind handbemalt mit Fabelwesen und Kompass-Rosen, andere, wie das kleine Modell auf dem Empfangstresen des Lesesaals, sind aus Lego.
Crom, kariertes Hemd, blaue Hose und schwarz gerahmte Brille, springt begeistert von einem Exemplar zum nächsten und hat zu jedem eine Geschichte parat. „Hier sehen Sie den größten Atlas der Welt, er wiegt 125 Kilogramm und wurde im Auftrag des großen Kurfürsten gefertigt. Da, ein Tellurium! Ein Globus, der über einen Metallarm mit einer Kerze verbunden ist und so die Bewegungen der Erde um die Sonne darstellt.“
Kartenabteilung Berliner Staatsbibliothek
Wolfgang Crom ist der Leiter der Kartenabteilung in der Berliner Staatsbibliothek, der Hüter von über einer Million Plänen, Globen und Atlanten. Er nennt es „sein Eldorado“. Aber er hütet diesen Schatz keineswegs eifersüchtig. Im Gegenteil, er versteht es als seine oberste Aufgabe, ihn mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. „Das Wunderbare ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die uns Mittel dafür gibt, jedes Jahr Hunderte neuer Karten zu kaufen. Egal welcher Wissenschaftler zu uns kommt, ein Biologe, der eine endemische Heuschreckenart irgendwo im Süden von Ägypten untersuchen möchte, oder eine Sprachwissenschaftlerin, die anhand von Siedlungsnamen auf historischen Karten die Entwicklung einer Sprache nachvollziehen will: Wir können liefern.“
Doch nicht nur für die Wissenschaft ist der Kartenlesesaal unverzichtbar, auch Hollywood klopft hier öfter an. „Das ist unser Filmstar“, sagt Crom und deutet auf einen frei stehenden Globus, der gut dreimal so breit ist wie er. „Es gibt nur wenige Exemplare von ihm und eines stand im Büro von den Nazifunktionären.“ Deshalb konnte man ihn schon in Filmen wie Operation Walküre mit Tom Cruise sehen.
Aber wie kommt man zu so einem irren Job?
Schuld ist ein Lehrer mit einem „verknitterten Gesicht“, erinnert sich Crom. In der Pause auf dem Schulhof wurde er als Teenager eines Tages von ihm an den Rand gewunken und mit sofortiger Wirkung zum Wandkartendienst verdonnert. Das hieß: Crom musste die Karten der Schule aus den Räumen abholen oder zum Erdkundeunterricht bringen, dafür bekam er den Schlüssel zum Kartenraum der Schule anvertraut. „Sehr nützlich, denn dort konnte ich vor Klausuren meine Spickzettel deponieren.“ Die Karten faszinierten ihn. Für den 63-Jährigen waren sie nicht nur Kunstwerke, sondern erzählten auch Geschichten über andere Zeiten und die Menschen, die sie angefertigt hatten.
„Eine Karte kann beides: Sie gibt den großen Überblick und zeigt gleichzeitig das kleinste Detail. Digitale Karten sind besonders gut im Detail, aber je näher man an sie herangeht, desto mehr verliert man den Überblick.“
Dabei ist Crom kein Internet-Muffel. Gerade sind er und sein Team dabei, einen neuen Dienst für digitale Geodaten aufzubauen, anhand derer sich jede:r selbst die Karte erstellen kann, die benötigt wird. Nach seinem Geografiestudium hat Crom in einer Landesbibliothek in Stuttgart gearbeitet, in den Neunzigern legte er dort einen der ersten HTML- Kataloge an. Damals eine Sensation. „Das war für mich die Eintrittskarte zur Staatsbibliothek in Berlin, 2000“, sagt Crom und führt vom Kartenlesesaal durch ein paar Türen in sein Büro.
Hier türmen sich, wie sollte es anders sein, Karten und vor allem Bücher über Karten. An den hohen Wänden stehen Regale voll mit Geschichtswälzern, aber auch Playmobil-Figuren, falls Kinder zu Besuch sind: ein Pirat, der einen Sextanten benutzt und ein Forscher mit Karte und Teleskop.
Machtmissbrauch von Karten
Bei so viel Liebe zum Forschungsobjekt traut man sich kaum zu fragen: Aber sind Karten nicht auch ein Instrument, das von Mächtigen oft missbraucht wird, da sie Welt und Wirklichkeit im Sinne des Auftraggebers abbilden?
Crom blickt entsetzt. „Das Problem liegt nicht bei den Karten, sondern bei den Menschen, die sie betrachten!“ Doch im Laufe des Gesprächs kommt er selbst auf Dutzende Beispiele, die eher auf eine Verantwortung der Auftraggeber der Kartenmacher:innen hindeuten.
Am Ende des Raumes steht ein großer Schreibtisch aus Holz, auf dem mehrere Monitore stehen. Crom ruft am Bildschirm Bilder verschiedener Karten auf. Eines zeigt einen billigen Plastikglobus, der 2014 in einer Massenbestellung von Russland beauftragt wurde: Er zeigt die ukrainische Halbinsel Krim als russisches Territorium – ein direkter Auftrag Putins. Karten und Globen sind letztendlich eben auch nur ein Medium der Information. Und Information kann missbraucht und gefälscht werden, wie in jedem anderen Medium auch.
„Eigentlich wurde mir das schon als Kind bewusst“, sagt Crom. „Ich bin am Niederrhein neben einer ehemaligen Flugbasis der Royal Air Force aufgewachsen. Jeden Tag habe ich fasziniert beobachtet, wie die Flugzeuge dort abgeflogen und gelandet sind. Aber auf keiner Karte war der Flughafen eingezeichnet. „Auch heute“ – er zoomt an eine Karte heran, die einen aktuellen Militärflugplatz der US Air Force in Deutschland zeigt – „kann man genau sehen: Informationen über Koordinaten und Details werden aus Sicherheitsgründen zurückgehalten oder einfach, weil Koordinaten heute eine Ware sind.“ Schnell klickt er weiter auf Google Maps und zoomt an einen beliebigen Punkt heran, bis Icons von gelben Messern und Gabeln aufploppen. „Will ein Restaurant bei Google Maps angezeigt werden, muss es dafür zahlen. Je schneller ein Restaurant beim Heranzoomen in einer Karte auftaucht, desto mehr kostet das.“
Deshalb, sagt Crom, seien Open-Source-Karten- dienste wie OpenStreetMap so wichtig. „Genau wie jedes andere Medium muss man Karten kritisch betrachten und sich immer fragen: Wer hat diese Karte gemacht und warum? Sie zeigt immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit.“ Wenn der Geograf nicht gerade auf der Jagd nach neuen Karten für den Bestand der Bibliothek ist oder Studierenden und Wissenschaftler:innen zur Seite steht, dann widmet er sich selbst der Forschung. Auch hier geht es ihm um die Frage von Macht und Sichtbarkeit.
„Mir ist bei der Darstellung des Kilimandscharo in den Diercke-Schulatlanten irgendwann aufgefallen: Auf keiner Karte findet man die Bewässerungskultur der Chagga, der indigenen Bevölkerung. Denn derjenige, der in den 1930er-Jahren die eine Landnutzungskarte des Kilimandscharo fertigte, war ein Nazi. Er dokumentierte lediglich, was von Weißen errichtet worden war. Bis heute wird dieser Fehler reproduziert.“
Karten helfen den Klimawandel zu verstehen
Dennoch glaubt Wolfgang Crom, dass es wichtig ist, insbesondere historische Karten nicht nur an zeitgenössischen moralischen Maßstäben zu messen, sondern sie als Quellen zu betrachten. Karten könnten uns helfen, viele gesellschaftliche Phänomene zu begreifen. Zum Beispiel geben sie uns genaues Wissen über den Gletscherschwund und helfen uns, den Klimawandel besser zu verstehen. „In der Stadtplanung werden Karten etwa bei der Renaturierung von Flüssen und Feuchtgebieten eingesetzt, weil man die ursprüngliche Natur in und um Städte oft nur anhand von historischen Karten nachvollziehen kann.“
Klick. Wieder geht es weiter. Ob Propagandakarten der DDR oder eine bunte Karte aus der frühen Neuzeit, die Walarten vor der Küste Islands zeigt – zu jeder Karte weiß Crom etwas zu erzählen. Der einzige Moment, in dem er verstummt, fast schüchtern wirkt, ist nach der Frage, ob er denn je selbst eine Karte gezeichnet hat.
„In der Tat nur ein einziges Mal im Studium. Da habe ich zwar alles ausgerechnet und durfte beim Ausmalen helfen, aber die Karte selbst hat eine Kartografin gezeichnet. Ich liebe Karten, denn sie sprechen zu mir. Aber ich bin kein Kartograf.“ Klick. Er ruft eine Karte auf, die so sehr von Schrift übersät ist, dass man einen Augenblick braucht, um sie zu entziffern. Tranckland, steht da. Leckeronia. Naschmarkt.
Die handwerklich extrem aufwendige Karte mit Koordinatensystem, Maßstab und allem Drum und Dran hat Johann Andreas Schnebelin 1720 gezeichnet: Sie ist ein Plan des Schlaraffenlands. Neuhochdeutscher Titel: „Accurata Utopiae tabula: Das ist der Neu-entdeckten Schalck-Welt, oder des so oft benannten, und doch nie erkannten Schlaraffenlandes neu erfundene lächerliche Landtabelle.“
„Oben hat er das Paradies eingezeichnet und unten die Hölle: Dazwischen findet man die Fallstricke und Versuchungen des Lebens“, sagt Crom und lächelt. „Menschen haben es in allen Epochen geliebt, in Karten auch ihre Fantasie auszuleben.“ Begeistert ruft er das nächste Bild auf. Es zeigt eines der ersten Puzzles der Welt: ein didaktisches Puzzlespiel, anhand dessen Schüler:innen in England und Deutschland im 18. Jahrhundert die Umrisse der Länder lernen sollten.
Durch die hohen Fenster von Wolfgang Croms Büro sieht man die Sonne sinken. Er muss weiter, er bereitet gerade eine Ausstellung über die Geschichte von Unter den Linden vor, der berühmten Prachtstraße Berlins, in der auch das Hauptgebäude der Staatsbibliothek mit seiner sakralen Fassade voller Statuen steht. „Sie müssen unbedingt wiederkommen und über meine Kollegen und Kolleginnen berichten“, sagt Crom, als er mich aus der Tür begleitet, zurück in den kapitolartigen Treppenaufgang der Bibliothek. „Sie glauben nicht, was die alles können. Wussten Sie, dass Johann Sebastian Bach ein Pfennigfuchser war, der nur mit der billigsten Tinte seine Partituren schrieb? In dieser Tinte war Eisen. Unser Restorations-Team sorgt also dafür, dass die Noten seiner Stücke langsamer rosten.“
Hier, zwischen den Gewölben, Globen und Karten, scheint die Welt noch in Ordnung. Ein Schatz wird gehütet. Er ist lebendig.
Der Kartenhüter Wolfgang Crom in der Staatsbibliothek Berlin.