An einem Dienstagabend im Januar klingelt bei Paul Schmidt das Telefon. Die Nummer kennt er nicht, ein Mann meldet sich und erzählt etwas von Zufallsgenerator und „Bürger:innenrat“. Was soll das sein, will der mir etwas verkaufen? Vielleicht hört der 24-jährige Lehramtsstudent aus Halle nur weiter zu, weil er selbst mal in einem Callcenter gearbeitet hat und weiß, wie es ist, wenn einem niemand zuhört. Vielleicht sind es auch die Stichworte, die sich in seinem Kopf verfangen: Bürgermeinung, Klimaziel 1,5 Grad, wie kommen wir dahin? „Schicken Sie mir doch Infos per Mail“, bittet Schmidt und googelt schon mal auf eigene Faust. „Der Youtube-Clip des Bürger:innenrats hat mich sofort gecatcht.“ Vor allem die Begeisterung von Menschen, die schon mal an einem Bürgerrat teilgenommen haben und unisono sagen: „Wir haben das nicht bereut.“ Noch bevor das dicke Infopaket in der Mailbox liegt, beschließt Schmidt: „Ich mache mit.“
Auch Mareike Menneckemeyer hätte fast aufgelegt. Nur weil die 37-jährige Hotelfachfachfrau aus Schwarzenbruck bei Nürnberg gerade mit ihren kleinen Kindern spielt, hört sie mit einem Ohr weiter zu. Bundesweite Initiative, Bürgerbeteiligung, acht dreistündige Runden abends und vier komplette Samstage Diskussionen. Thema: Klimaschutz. „Wir Bürger:innen werden gehört – endlich“, sagt sich Menneckemeyer, recherchiert nach, plant mit ihrem Mann die Kinderbetreuung und entscheidet: „Ich bin dabei.“
Paul Schmidt und Mareike Menneckemeyer sind zwei von 160 Bürger:innen, die seit Ende April im bundesweiten Bürgerrat Klima über Maßnahmen für den Klimaschutz diskutieren. Beraten von führenden Wissenschaftler:innen erarbeiten sie Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik in der nächsten Legislaturperiode. Mehrere Tausend zufällig ausgewählte Bürger:innen wurden telefonisch kontaktiert, 600 hatten Interesse, 160 von ihnen wurden repräsentativ ausgewählt – nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Größe des Wohnorts, Bundesland und Migrationsgeschichte. „Deutschland in klein“, nennt das Rabea Koss vom gemeinnützigen Verein BürgerBegehren Klimaschutz, der den Bürgerrat federführend organisiert.
Bürger:innenräte als Instrument der Politikbeteiligung gewinnen seit einigen Jahren an Bedeutung. Wo sich Gesellschaften immer schneller wandeln, politische Lager diversifizieren und Meinungsfindung in Parlamenten schwieriger wird, scheinen Wahlen allein als demokratisches Beteiligungsinstrument nicht mehr auszureichen. Erst recht, wenn es um Grundsatzfragen wie Klimapolitik geht. Irland startete 2016 einen Bürger:innenrat zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe, ein weiterer fand 2017 zum Thema Klimapolitik statt. In Frankreich, aufgewühlt von den sozialen Protesten der Gelbwesten, diskutierten auf Initiative der Regierung Macron Ende 2019 ausgeloste Bürger:innen über Umweltpolitik. Nun zieht Deutschland nach – organisiert von der Zivilgesellschaft. Bottom-up statt top-down.
Verschiedene Initiativen hatten sich für einen Bürgerrat Klima stark gemacht. Im November 2020 startete ein überparteiliches Bündnis junger Aktivist:innen unter dem Namen „Klima Mitbestimmung jetzt“ eine Petition für einen deutschen Bürgerrat zur Klimapolitik, 70.000 Unterschriften gab es dafür. Im Dezember trommelten Scientists for Future gut 80 Organisationen der Zivilgesellschaft zu einem Planungstreffen zusammen. Ziel: „Noch vor den Bundestagswahlen sollten die Ergebnisse der Bürgerrunden auf dem Tisch liegen“, sagt Sprecherin Koss. „In der Klimapolitik stehen in diesem Jahr wichtig Entscheidungen an. Die Politiker:innen sollen wissen, was Bürger:innen von ihnen erwarten.“
Bürgerrat Klima: Wer macht mit?
Mit Turbospeed legt das Team los. Startet Umfragen in Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik: Welche Handlungsfelder sind für die Klimapolitik am wichtigsten? Wirbt zwei Millionen Euro Spenden ein, um das Projekt zu finanzieren. Holt drei Institute an Bord, Profis in Sachen politische Beteiligungsverfahren, die Ablauf und Systematik der zwölf Bürger:innensitzungen planen, unabhängige Expert:innen für die vier zentralen Handlungsfelder Mobilität, Energie, Gebäude & Wärme und Ernährung rekrutieren, 60 Moderator:innen engagieren und Rundrufe in ganz Deutschland organisieren: Wer macht mit? Am 26. April geht es los.
160 Bürger:innen online – „Wird das nicht chaotisch? Langweilig?“, fragt sich Lehramtsstudent Schmidt, bevor er sich das erste Mal einwählt. „Wird das ein besserer Stammtisch? Gott, was wird da von mir erwartet?“, überlegt Hotelfachfrau Menneckemeyer. Was dann kommt, überrascht beide: eine abwechslungsreich komponierte Tagung, professionell organ…
Hinter den Kulissen der ersten Sitzung: Zwölf Termine per Zoom, mal drei Stunden an einem Wochenabend, mal acht am Samstag, mal Vorträge und Debatten im Plenum, mal Diskussionen in Kleingruppen – der Bürgerrat Klima tagt.