Die Rosine und ich
Erziehungswissenschaftlerin Anja Lindner bringt Kindern bei: Locker bleiben, aufs Wesentliche schauen, Achtsamkeit üben. Und wenn es sich nur um eine kleine Trockentraube handelt
Manchmal macht Anja Lindner mit einer Grundschulgruppe das Rosinenexperiment. Jedes Kind bekommt eine kleine Trockentraube. Wie fühlt sie sich an? Wie riecht sie? Was passiert in deinem Körper, wenn du sie anschaust? „Sie sollen merken, wie ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft, dann dürfen sie die Rosine probieren“, sagt Lindner. Wonach schmeckt sie, wie verändern sich Geschmack und Textur mit der Zeit? Sprich nicht, teste deine Sinne. „Manche Kinder kosten die Rosine zehn Sekunden, manche fünf Minuten lang.“ Das Experiment ist eine Übung zur Achtsamkeit. Die Welt wahrnehmen, sich selbst entdecken.
Seit 15 Jahren geht Anja Lindner in Berliner Grundschulen und übt mit dem Nachwuchs den behutsamen Umgang mit sich und der Umwelt. Selbstregulation, Stressbewältigung, locker bleiben, auch wenn es im Kinderalltag knirscht. Die Hausaufgaben, die Klassenarbeiten, Rangeleien mit Mitschüler:innen – alles zu viel. „Auch früher gab es an Schulen Anspannung und Stress“, sagt Lindner. „Aber seit einiger Zeit merke ich, wie der Druck steigt.“ Ein „Gefühl angehaltenen Atems“, nennt sie das.
Wie gehen wir mit uns um, wann geht es uns gut? Das beschäftigt Anja Lindner schon lange. Im Studium, Erziehungswissenschaften und Psychologie, fasziniert sie besonders Gesundheitspsychologie. Inwieweit prägen unsere Einstellungen das Wohlbefinden, welche Rolle spielt die Beziehung zu anderen Menschen für unser Glück? Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, baut eine Begegnungsstätte für Menschen im Kiez auf. Später, als ihre beiden Kinder in die Schule gehen, fällt ihr auf: Es fehlt die Lust aufs Lernen. Spannung, Stress, kleine Konflikte überlagern den Alltag.
Irgendwann in den 00er-Jahren legt Lindner los, auf eigene Faust. Sie bietet Nachmittagskurse in der Grundschule ihrer Kinder an, die Lehrkräfte sind begeistert. Schließlich kennt sich Lindner aus. Studium, Ausbildung zur Kursleiterin, Fortbildungen von Resilienz bis Konfliktbewältigung. Sie übt mit Schüler:innen Ruhe bewahren. Einen Ball drücken und wieder loslassen, wenn man aufgeregt ist. In Fantasiereisen runterkommen. Stell dir vor, du wärst eine Schneeflocke, die tanzt auf deiner Haut. Wie fühlt sich das an? Die Nachfrage ist riesig. Lindner gründet ihre Firma „Ruhig Blut“.
Heute fördern Krankenkassen ihre Trainings, das Angebot „Bleib locker“ macht sie im Auftrag der Techniker Kasse. Lindner verbindet das Konzept mit eigenen Methoden. Indem sie etwa mit den Kindern diskutiert: Was ist wirklich wichtig? „Erst sagen manche spontan: Dass der Leon mir den Radiergummi weggenommen hat, will ich nicht. Dann denken sie nach und sagen: Fairness. Oder: Ruhe im Miteinander.“ In „Stressimpfungs-Übungen“ trainieren sie den Umgang mit schwierigen Situationen. Stell dir vor, du hast Stress – was genau passiert dann, was kannst du dagegen tun? Lindner: „So ist man gewappnet, wenn der Stress wirklich mal kommt.“
„Bleib locker“ wurde wissenschaftlich evaluiert. Ergebnis: Die Gruppen hatten nach acht Trainings signifikant weniger Stress als eine Kontrollgruppe. Lindner: „Dass meine Arbeit anderen guttut, trägt mich durch den Alltag.“ Heute bietet sie einen Strauß Trainings an, einige für Lehrkräfte. „Sie müssen ebenfalls lernen, auf sich zu achten – auch, um ihre Gereiztheit nicht an die Kinder weiterzugeben.“
Der Würger und das Cape
Nele Groeger und das Team von Shitshow wollen Unternehmen für psychische Gesundheit sensibilisieren. In Workshops stecken sie Teilnehmer:innen in seltsame Moodsuits
Die Objekte auf dem Tisch vor Nele Groeger sehen aus wie Requisiten aus einem Science-Fiction-Film. Und sie klingen auch so: Der Beuger, der Würger, das Cape, die Glocke. „Könnte aus einem Horrorkabinett sein“, witzelt sie an einem Donnerstagvormittag in ihrem Erdgeschoss-Büro in Neukölln. Die braunen Haare fallen Groeger über die Schultern, im Regal hinter ihr Bücher wie Work won’t love you back oder Die angstfreie Organisation. Vor den Fenstern bleiben immer wieder Fußgänger:innen stehen und gucken in den Raum. „Manchmal denken die Leute, hier ist ein Pop-up-Store.“ Dabei stehen die Objekte nicht zum Verkauf. Sie sollen aufklären über psychische Erkrankungen.
Denn in Unternehmen sind sie immer noch: ein großes Tabu. Fehltage und Fälle von Berufsunfähigkeit sind seit der Pandemie rasant gestiegen. Laut der Studie „Arbeiten 2023“ der Pronova BKK fühlen sich 61 Prozent der Arbeitnehmer:innen in Deutschland burnout-gefährdet. 9,5 Millionen Menschen haben Depressionen oder Angststörungen. „Das liegt auch an einer drastischen Arbeitsverdichtung“, sagt Groeger, die Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften an der Universität der Künste studiert hat: „Oft bleibt schlicht keine Zeit, um auf seine Grenzen zu hören.“
Groeger weiß, wovon sie spricht. Mit 17 hat sie ihre erste depressive Episode – ein Gefühl, wie eine bleischwere Decke auf ihrer Brust. Bei ihrem ersten Job als Copy-writerin in einer Agentur traute sie sich manchmal nicht, sich krank zu melden. „Ich wollte mein Team nicht im Stich lassen oder als faul abgestempelt werden.“ Mit dem Gefühl ist sie nicht allein. Was also dagegen tun?
Das dachten sich auch Luisa Weyrich, Benthe Untiedt und Johanna Dreyer. Gemeinsam tüftelten die Freundinnen 2019 monatelang in Groegers Wohnzimmer an ihrer Idee: Shitshow – eine Agentur für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Mentale Gesundheit bei der Arbeit fördern, eine Kultur der Akzeptanz etablieren und ein Bewusstsein für psychische Erkrankungen wissenschaftlich fundiert vermitteln.
Ein wichtiges Tool des Start-ups: die Moodsuits. Der Würger zum Beispiel, den man sich wie einen Schal verkehrt herum um den Hals legt. „Die eingebaute kleine Holzkugel drückt leicht auf den Kehlkopf – das bezeichnen Ärzt:innen auch als Globus-Gefühl“, erklärt Groeger. Oder die Glocke, ein großer Taucher:innenhelm in Milchglasoptik, den man sich über den Kopf stülpt. „Wie ein Schleier, der bei einer Depression oft über den Betroffenen liegt.“ Shitshow verschickt seine Moodsuits quer durch Deutschland. „Sie dienen als Gesprächsanlass und nehmen die Schwere vom Thema“, erklärt Groeger. „Am Anfang finden viele Workshop-Teilnehmende das albern, häufig gibt es dann doch jemanden, der einen Fall in der Familie hat oder selbst betroffen ist.“
Shitshow will zeigen: Menschen können sehr wohl leistungsfähig sein, trotz Überforderung oder psychischer Erkrankung, und sollten offen darüber reden dürfen. Sport-Mitgliedschaften oder Meditationen in den Mittagspausen reichen nicht, um den Stress bei den Angestellten rauszunehmen. „Die Verantwortung allein dem Individuum zuzuschieben, wird der Sache nicht gerecht. Unternehmen müssen sich selbst in die Pflicht nehmen“, sagt Groeger. Nötig sei meist: die Unternehmenskultur auf den Prüfstand stellen – wo machen wir Mitarbeitenden Druck, welche mittelbaren Botschaften senden wir? Aber das ist unbequem und teuer.
Groeger wickelt ihren Cardigan eng um den Körper und trinkt einen Schluck Kräutertee. Hinter ihr stapeln sich Kartons, auf dem Klebeband das Wort Shitshow in Dauerschleife. Als Nächstes geht es für die Moodsuits zu einem großen Unternehmen nach Karlsruhe. „Meine Einstellung zur Arbeit hat sich grundlegend geändert: Wenn der Druck zu groß wird, nehme ich mir eine Auszeit – ohne schlechtes Gewissen.“
Achtsamkeit und Offenheit sind wichtig für unsere psychische Gesundheit. Sie helfen Stress und Krisen unseres Alltags zu minimieren.