Streitgespräch: Die Zukunft der VWL

Brauchen die Wirtschaftswissenschaften eine Neuorientierung?

Die gängige Wirtschaftslehre sei weltfremd, findet Silja Graupe, Professorin für Ökonomie und Philosophie. Sie will daher das ganze Lehrsystem der Wirtschaftswissenschaften auf den Kopf stellen. Axel Dreher, der zu politischer Ökonomie und wirtschaftlicher Entwicklung forscht, sucht nach anderen Lösungen. Wir haben mit den beiden Expert:innen ein Streitgespräch geführt.

Frau Graupe, mehr als 21.000 junge Menschen studieren Volkswirtschaftslehre (VWL), Hundertausende aus anderen Studiengängen besuchen die Einführungsveranstaltungen. Viele von ihnen gestalten später mal unsere Wirtschaft wesentlich mit. Sie sagen nun: Auf diese Aufgabe werden die Studierenden nicht angemessen vorbereitet. Was läuft falsch in den Wirtschaftswissenschaften?

Silja Graupe: Die Hochschulen arbeiten mit Standard-Lehrbüchern, die sich einseitig auf abstrakte mathematische Modelle fokussieren und völlig weltfremd sind. Viele junge Menschen studieren Ökonomie, um mit den Krisen der Welt umgehen zu lernen. Aber gerade in den ersten Semestern ist überhaupt nicht erkennbar, was das Studium mit der tatsächlichen Wirtschaft zu tun haben soll. Wir haben 2019 Studierende an fünf Hochschulen im deutschsprachigen Raum befragt: Sie fühlen sich weder gut ökonomisch gebildet, noch auf die Arbeit in Unternehmen vorbereitet, und sie vermissen die Auseinandersetzung mit politischen, sozialen und ökologischen Fragen in der Wirtschaft.

Woran fehlt es konkret?

Graupe: Die Modelle, die an den Hochschulen immer noch im Zentrum stehen, sind im 19. Jahrhundert erfunden worden und von den Weltbildern dieser Zeit geprägt. Fragen von Macht, Ungewissheit, Ungleichheit etwa werden ausgeblendet, das Thema Klimakrise – wie überhaupt das Krisenhafte unserer Welt – bis heute an den Rand gedrängt. Wo bleiben historische Bezüge, wo die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer Ökonomie? Hinzukommt: An den Massenuniversitäten werden immer noch angeblich objektive Wahrheiten verkündet und in den Klausuren abgeprüft, nicht selten mit Ankreuztests. Es fehlt an kritischer Reflexion, einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkschulen. Ich halte das gerade in Krisenzeiten für einen völlig falschen Weg.

An den Massenuniversitäten fehlt die kritische Reflexion, die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer Ökonomie
Silja Gruppe
Silja Gruppe ist Präsidentin der privaten Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (HfGG) in Koblenz. Mit der Gründung der HfGG 2021 will die Professorin für Ökonomie und Philosophie eine Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften fördern.

Herr Dreher, Sie lehren Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg. Was halten Sie davon?

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Axel Dreher: Ich kann mit Ihren Pauschalaussagen nicht viel anfangen, Frau Graupe. Natürlich gibt es auch schlechte Hochschulen, auch schlechte Lehre. Aber das ist die Ausnahme. Und das Fach hat sich doch längst weiterentwickelt.

Inwiefern?

Dreher: Es gibt mindestens drei Richtungen in der VWL: Eine untersucht Wirtschaftssysteme, indem sie große Datenmengen auswertet. Die Verhaltensökonomie nimmt das Handeln des Menschen aus einer psychologischen Perspektive in den Blick und arbeitet sehr experimentell. An den Homo oeconomicus – also die Vorstellung, dass Menschen rational ihren eigenen Nutzen maximieren – glaubt in der VWL doch niemand mehr. Eine dritte, kleiner gewordene Gruppe untersucht ökonomische Phänomene mithilfe von mathematischen Modellen.

Und was prägt die Lehre?

Dreher: Vielfalt. Natürlich halten wir auch regelmäßig Vorlesungen zur Geschichte der Ökonomie, sogar zur Geschichte des ökonomischen Denkens in der Umweltökonomie. Allein in Heidelberg haben wir drei Umweltökonomen. Eine meiner Bachelor-Vorlesungen ist sehr interdisziplinär, überschneidet sich stark mit den Politikwissenschaften. Ob diese Angebote im Vergleich zu den Einführungsveranstaltungen stark genug gewichtet sind, kann man natürlich diskutieren. Diese sind in der Tat sehr standardisiert – ich halte das jedoch für sinnvoll. So lernen die Studierenden von Anfang an die gleiche Sprache, finden eine gemeinsame Argumentationsbasis, lernen Methoden und Modelle – um sich anschließend kritisch damit auseinanderzusetzen. Jedes Modell ist ja nur ein vereinfachtes Abbild der Realität, wie ein Matchboxauto. Zentral ist: Bildet dieses Modell die für eine ganz bestimmte Fragestellung relevanten Aspekte ab? Welche Annahmen müssen hinterfragt werden? Was lässt sich daraus für die Realität lernen und was nicht?

Das sind Pauschalaussagen. Schlechte Lehre ist die Ausnahme. Das Fach hat sich doch längst weiterentwickelt
Axel Dreher
Axel Dreher, Professor für internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik an der Universität Heidelberg. Schwerpunkt seiner – oft interdisziplinären – Forschung ist die politische Ökonomie und wirtschaftliche Entwicklung.

Zum Beispiel?

Dreher: Nehmen wir den Arbeitsmarkt: Ein Standardmodell zeigt, dass ein Mindestlohn zu Arbeitslosigkeit führt. Es ist natürlich Unsinn, daraus zu schlussfolgern, dass der Mindestlohn immer zu Arbeitslosigkeit führt. Das gilt nur unter den spezifischen Annahmen dieses Modells. Und mit denen muss man sich natürlich auseinandersetzen. Außerdem diskutieren wir: Welche empirischen Untersuchungen gibt es zu den Effekten von Mindestlohn, wie müssten wir die Annahmen ändern, damit das Modell aussagekräftiger wird und zu verschiedenen Situationen passt? Welche Datenreihen, Länderinfos, Studien können wir einarbeiten? Wir dürfen die Studierenden nicht mit dem Lehrbuchwissen alleinlassen.

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Graupe: Das ist ja wunderbar, wenn Sie das in Ihrer Lehre so kritisch einordnen, aber ich will das ganze System ändern. Wir brauchen neue Curricula, die diese Herangehensweise institutionalisieren. Denn wenn Studierende nicht kritisch hinterfragen, sondern nur Lehrbuchwissen herunterbeten, kommen sie ja trotzdem an den meisten Hochschulen durch die Klausur.

Dreher: Bei meinen Klausuren fällt oft mehr als ein Drittel durch. Die Klausuren sind mir manchmal zwar selbst etwas peinlich; frage ich aber mehr Transferwissen ab, steigt die Durchfallquote. Das liegt auch daran, dass es vielen Studierenden zu mühsam ist, in die Vorlesung zu kommen, weil sie lieber zu Hause auswendig lernen. Ich biete viel Realitätsbezug und kritisches Hinterfragen an. Aber ich finde, wir können Studierende nicht zwingen, sich damit auseinanderzusetzen. Wir haben es schließlich mit Erwachsenen zu tun.

Graupe: An der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung arbeiten wir uns nicht mehr an den Standardlehrbüchern ab. Stattdessen stellen wir erst einmal thematische Fragen in den Vordergrund und thematisieren sie aus unterschiedlichen Perspektiven: Was ist Arbeit, Wirtschaft, welche Denkschulen gibt es, was verändert sich in einer Welt der Klimakrise? Auch wenn das auf Kosten der Standardisierung geht.

Dreher: Ich finde vieles davon nicht falsch. Doch wie herum man das macht, spielt meines Erachtens keine Rolle. Ein Standardwerk wie Gregory Mankiws Makroökonomik ist gut lesbar und eine geeignete Grundlage, die Rolle von Modellen zu diskutieren und deren Annahmen kritisch zu hinterfragen.

Graupe: Wie gesagt: Diese Diskussionen hängen an den meisten Universitäten vom Goodwill einzelner Lehrender ab. Es geht mir aber auch noch um was anderes: um das Mindset, das in solchen Lehrbüchern steckt und Hunderttausende Studierende beeinflusst …

… Gregory Mankiws Buch ist in 40 Sprachen übersetzt …

Graupe: … es ist das Standardwerk weltweit. Und in diesen Lehrbüchern geht es ja nicht einfach um eine mathematische Annäherung an Wirtschaft. Sie transportieren ein Weltbild, das so tut, als wären Märkte für alles eine Lösung. Und Studierende haben praktisch keine Wahl. Ein Beispiel: Wenn mexikanische Austauschstudierende an eine deutsche Hochschule kommen, dann sagen sie: „Wir müssen Kapitel 8 und 9 von Mankiw studieren, ansonsten wird es bei uns zu Hause nicht anerkannt.“ Für nationale, politische und kulturelle Differenzen ist überhaupt kein Platz.

Dreher: Natürlich kommen Autoren immer von einer bestimmten Schule, Mankiw etwa steht den US-Republikanern nah. Auch deshalb muss man gründlich ihre Annahmen besprechen und hinterfragen. Doch diese Standardwerke sind auch gut gemacht. Die großen Verlage stellen sehr gutes Material zur Verfügung. Übungsaufgaben, Klausurvorschläge, eine super Datenbank für Studierende, Foliensätze, Skripte. Das ist natürlich viel bequemer, als sich selbst zu überlegen: Wie mache ich es besser? Damit kommen wir zu einem Problem, das ich tatsächlich auch sehe: Die Lehre wird in unserem Fach nicht hoch gehandelt.

Berufen wird, wer möglichst viel in renommierten Fachzeitschriften publiziert.

Dreher: Genau. Und das gelingt zudem am besten, wenn man sehr kleinteilige Fragen bearbeitet – denn die können wir Ökonomen ziemlich präzise beantworten. Mit den präzisen Ergebnissen punktet man in den Zeitschriften. Um etwa herauszufinden, wie man die Lebenssituation von Menschen an einem Ort verbessern kann, gehen Hilfsorganisationen in arme Dörfer und geben jedem Haushalt 1.500 US-Dollar; Entwicklungsökonomen evaluieren mehr als zehn Jahre lang, wie sich das auf das Leben der Menschen dort auswirkt. Führt das Geld zu besserer Bildung, mehr Miteinander, stabileren Familienbeziehungen? Dazu kann man sehr präzise Antworten finden, die sich gut publizieren lassen. Große Fragen lassen sich selten mit solcher Präzision beantworten und werden deswegen in der Forschung seltener thematisiert.

Graupe: Und genau das halte ich für ein großes Problem. Warum ist die Präzision in den Wirtschaftswissenschaften so wichtig? Ist das die richtige Erkenntnismethode in der heutigen Welt voll Ungewissheit? Warum beschäftigen sich Ökonom:innen mit den immer gleichen Fragen: Wie stellen wir ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage auf Märkten her, was bewirkt Mindestlohn, wie funktioniert Wachstum?

Dreher: Es geht doch nicht darum, dass Wachstum super ist. Auch wenn wir etwa wissen wollen, wie man mit weniger Wachstum zurechtkommt, müssen wir verstehen, wo es herrührt. Wie stark es mit Wohlstand und Ungleichheit korreliert. Welche Alternativen es zum Bruttoinlandsprodukt gibt, um das Wohlbefinden einer Gesellschaft zu messen – wie den Index der menschlichen Entwicklung der UN oder Fragebögen zum Glücksempfinden von Menschen.

Graupe: Sicher können wir Wachstum kritisch hinterfragen, aber taugt denn die Kategorie überhaupt? Ich denke nicht. Viele Krisen haben weder mit Wachstum noch mit Angebot und Nachfrage zu tun, sondern etwa mit Machtmechanismen. Die ökologische Transformation als rein marktwirtschaftliches Problem zu verstehen, greift zu kurz. Die Welt ist chaotisch, ungewiss, krisenbehaftet. Wir Ökonom:innen müssten alle Ressourcen dafür verwenden, uns mit den großen Fragen zu befassen, die sich eben nicht quantitativ beantworten lassen. Gerechtigkeit, Klima, Umgang mit Macht. Dafür brauchen wir neue Kategorien, neue Argumentationswege – auch an den Hochschulen.

Es geht nicht darum, dass Wachstum super ist. Sondern zu verstehen, wie es funktioniert
Axel Dreher

Dreher: In der strukturellen Kritik gebe ich Ihnen recht. Das Fach sollte mehr Energie in andere Fragestellungen stecken. Allerdings gibt es auch hierfür durchaus gute Beispiele. Gerechtigkeit etwa war lange kein Thema in den Wirtschaftswissenschaften. Erst mit den Arbeiten des französischen Ökonomen Thomas Piketty über Ungleichheit und Kapitalismus hat sich das in den vergangenen Jahren geändert. Das zeigt, dass es trotz der etablierten Mechanismen, die über Erfolg entscheiden, auch anders gehen kann. Der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr hat mit seinen Studien zur Verhaltensökonomie vor gut 20 Jahren ein völlig neues Feld mitgeschaffen, das heute Mainstream ist. Die US-amerikanische Forscherin Elinor Ostrom stellte in den 1990er-Jahren mit ihren Beiträgen zur Umweltökonomik sehr erfolgreich neue Fragen jenseits des Mainstreams und ist in der VWL sehr angesehen.

Ja, wir können Wachstum hinterfragen. Aber taugt die Kategorie überhaupt?
Silja Graupe

Graupe: Doch auch heute brauchen wir neue Ansätze. Aber Neues wird schnell als unwissenschaftlich diskreditiert. Dabei ist „wissenschaftlich“ eben nicht nur, was sich distanziert beobachten und messen oder rein abstrakt berechnen lässt. In der Ökonomie war die Frage nach einem gerechten Preis bis ins 19. Jahrhundert selbstverständlich, nur mathematisch über Wirtschaft nachzudenken, verpönt. Der große Vordenker Adam Smith hatte einen Lehrstuhl für Moralphilosophie – so etwas wäre heute undenkbar. Wir müssen die qualitative Forschung in unserem Fach stärken. Als neue Form der Wissenschaft, die Menschen befähigt, sich mit den grundlegenden Fragen des Zusammenlebens auseinanderzusetzen. Die Methoden dafür zu entwickeln, dürfen wir nicht den Sozialwissenschaften überlassen. Es geht ja um originär ökonomische Fragen.

Dreher: Ah, in diesem Punkt sind wir uns einig. Im Gegensatz zu anderen Fächern können Sie in der VWL mit qualitativen Studien nicht punkten. Das gilt bei uns als unwissenschaftlich, ist nicht trendy. Das halte ich auch für falsch.

Wie lässt sich das ändern?

Graupe: Nun, es bleibt uns nichts anderes übrig, als dafür zu kämpfen, dass sich die Wirtschaftswissenschaften mehr öffnen. Wir müssen mehr Debatten einfordern. An der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung machen wir unser anderes Verständnis von Ökonomie schon im Namen sichtbar. Wir berufen auch Professor:innen nach anderen Kriterien als die staatlichen Hochschulen: Gute Lehre ist uns wichtig, die Kenntnis vieler unterschiedlicher Denkrichtungen und das Forschen nicht nur über, sondern mit Menschen.

Dreher: Lassen Sie uns doch abwarten, welche Studierenden jeweils herauskommen. Ich finde den Wettbewerb in Wissenschaft und Lehre wunderbar, da bin ich ganz Ökonom.

Graupe: Allerdings ist der Wettbewerb verzerrt. Wir bekommen keine Unterstützung vom Staat, sondern müssen uns aus Spenden und Studienbeiträgen finanzieren.

Wirtschaftswissenschaftler:innen beraten Politik und beeinflussen Entscheidungen. Die Wirtschaftspublizistin Ulrike Herrmann hält sie gar für mächtiger als jede andere Disziplin. Zu Recht?

Dreher: Den direkten Einfluss von Ökonomen auf Politiker halte ich für klein. In der Regel sucht sich die Politik Berater, die erzählen, was sie hören wollen. Den größten Einfluss haben wir wohl über die Ausbildung der Menschen, die später in Positionen sitzen, in denen sie etwas verändern können.

Wir Ökonomen sollten mehr Debatten pushen. Aber viele fragen: Was habe ich davon?
Axel Dreher

Aber bis jemand eine einflussreiche Stellung innehat, dauert es meist um die 20 Jahre …

Dreher: … eben, da kennt man den aktuellen Stand von Forschung und Lehre schon gar nicht mehr. Weltbank und Internationaler Währungsfonds setzten lange Zeit auf eine liberale Wirtschaftspolitik, weil viele Verantwortliche damals diese alten Konzepte im Kopf hatten. Neulich saß ein Politiker in einer Diskussion neben mir, der sagte: Lieber drei Prozent Inflation als drei Prozent Arbeitslosigkeit. Dieser Zusammenhang ist längst widerlegt.

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Graupe: Es macht mir Sorge, dass es vielen in Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft schwerfällt, ethische Verantwortung zu übernehmen und konstruktiv kritische Diskurse zu führen. Diese brauchen wir dringend, um die ökosoziale Transformation unserer Gesellschaften zu schaffen. Ökonom:innen sollten sich daher unbedingt in die öffentlichen Debatten einmischen.

Wirtschaftliche Bildung, die Lust auf Neues macht, halte ich für unverzichtbar
Silja Graupe

Dreher: Ja, wir sollten mehr mit Journalisten sprechen, Vorträge halten, Debatten pushen. Aber viele Ökonomen fragen sich: Was habe ich davon, mein Fach der Öffentlichkeit zu erklären? In anderen Ländern wirkt es sich positiv auf die Karriere aus, wenn man in einer Talkshow sitzt. Hier fragen Kollegen eher: Haben Sie nichts Besseres zu tun? Es ist auch nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen: Viele Entscheidungen werden letztlich nicht nach ökonomischen, sondern nach politischen Aspekten getroffen. Zertifikatehandel mag ökonomisch der richtige Weg sein, um CO2 zu reduzieren, aber ist er auch politisch zumutbar?

Graupe: Umso wichtiger finde ich, schon den ökonomischen Nachwuchs zu ermutigen, die großen Debatten noch mal neu aufzumachen: Für was lohnt es sich zu arbeiten, was ist lebenswert, was ist überhaupt noch möglich in den planetaren Grenzen, wo gibt es neue Chancen und wie können wir die Wertmaßstäbe so ändern, dass Verzicht gar nicht mehr als Problem erscheint? Da sind wir als Ökonom:innen stark gefragt, weil wir uns ja auskennen sollten mit der Kunst, Güter herzustellen, und mit der Moral, sie gerecht zu verteilen. Die junge Generation ist sehr verunsichert, Klimaangst allgegenwärtig. Eine ökonomische Bildung, die Lust macht, neue Möglichkeiten zu entdecken, halte ich daher für unverzichtbar.

Fotos: Christian Daitche, Freya Schadt

Silja Graupe (links) und Axel Dreher (rechts) diskutieren, wie sich die ökonomische Lehre ändern sollte.

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