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Seit einem halben Jahr ist die Angst für Friederike Schlegel* schier unerträglich geworden. Die Angst, dass die drei Euro pro Kopf und Tag für Lebensmittel für sie und ihre vier Kinder (6, 8, 11 und 13) nicht reichen, die der Sozialarbeiterin vom Arbeitslosengeld II nach Abzug aller anderen Kosten bleiben. Die Angst, dass Brot und Milch wieder teurer geworden sind, dass andere schneller waren und ihr das reduzierte Obst und Gemüse in den letzten Minuten des Wochenmarkts weggeschnappt haben.
Längst ist die kraftzehrende Sonderangebotstour durch Supermärkte zu ihrem Alltag geworden, täglich scannt sie Foodsharing-Angebote auf Telegram, klappert die Abholstationen ab. Die Angst, dass die Waschmaschine kaputt geht, die gerade so komische Geräusche macht. Dass die Konflikte mit ihrem Ex-Mann, von dem sie sich vor vier Jahren getrennt hat, nie aufhören. Dass Streit und Gewalt neue Fahrt aufnehmen – und Aron*, Caja*, Emilia* und Finn* dazwischengeraten, auch wenn sie bei ihr leben. Dass ihre psychischen Probleme wiederkommen, die Verzweiflung, weil sie einfach nicht mehr kann, wenn die epileptischen Anfälle des sechsjährigen Finn bis in die Nacht gehen, manchmal sind es achtzig in 24 Stunden.
Die Angst, dass ihr die Kraft ausgeht, es den Kindern so gut wie irgend möglich zu machen: Drachen steigen lassen auf dem Teufelsberg, Tanzstunden für Emilia in einem günstigen Verein, Klavier für Caja wann immer möglich, ein paar Euro Taschengeld für Aron, ihren Teenie. Die Angst, dass es niemals wieder besser wird, denn wie, wann soll sie wieder arbeiten gehen in ihrem Job in der Jugendhilfe mit einem kranken Sohn, der sie braucht? Wie soll sie je rauskommen aus dieser Armut, diesem Leben zwischen Scham und Selbstzweifeln? Und warum, verdammt, interessiert sich eigentlich niemand dafür?
13,8 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen
An einem lauen Frühlingsabend im Mai 2022 stößt Schlegel auf einen Hashtag bei Twitter. Da erzählen Menschen, dass sie mit Tränen in den Augen vor der Käsetheke stehen und sich am Monatsende kein Essen mehr leisten können, weil die Stromrechnung explodiert. Dass sie sich nicht trauen, gespendete Lebensmittel bei der Tafel abzuholen, weil sie stundenlang vor den Augen aller Schlange stehen müssen auf dem Gehsteig im Kiez.
Da sind Dutzende Geschichten, die ihrer gleichen. Von Menschen, die eine Scheidung oder Krankheit aus dem prallen Berufsleben in die Armut katapultiert hat. Die sich mit Niedriglohnjobs oder kleinen Renten nicht mehr über Wasser halten können. Deren Wut wächst über eine Gesellschaft, die ihre Bilder von Armut pflegt wie ein lieb gewonnenes Vorurteil: faul, selbst schuld, alles halb so schlimm. Die Menschen, denen Schlegel an jenem Abend auf Twitter begegnet, sagen: Wir wollen nicht länger den Mund halten. Wir wollen zeigen, wie sich das anfühlt, arm sein. „Für mich war das wie eine Befreiung“, sagt die 41-Jährige. Sie beschließt: Ich mache mit bei #IchBinArmutsbetroffen.
Armut in Deutschland? Lange wurde das unter den Teppich gekehrt von einer Wohlstandsgesellschaft, die ungern aushält, was sie in Kauf nimmt: Menschen, die arm sind. Dabei sprechen die Zahlen für sich. 13,8 Millionen Menschen in Deutschland sind laut Paritätischem Armutsbericht 2022 arm: Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben, also 1.148 Euro netto im Monat. Seit 2006 ist das Armutsrisiko damit um knapp ein Drittel gestiegen. Damals waren gut 11 Prozent der Bevölkerung arm, heute sind es 16,6 Prozent.„Armut ist längst kein Randphänomen mehr, sondern schiebt sich in die Mitte der Gesellschaft“, sagt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge.
Und die Lage verschärft sich stetig. Seit Pandemie-Beginn sind weitere 600.000 Menschen in die Armut gerutscht, vor allem Selbstständige, die Armutsquote bei ihnen stieg von 9 auf 13 Prozent. Inflation und Energiekrise beschleunigen das, sagt Butterwegge. „Wir sehen ein neues Phänomen, schwer statistisch zu erfassen, aber massiv: die verborgene Armut.“ Wo Lebensmittelpreise und Heizkosten explodieren, reicht immer mehr Menschen das Geld nicht mehr zum Leben, auch wenn sie laut Definition noch nicht arm sind. Gleichzeitig nehme die Zahl der absolut Armen zu, die nicht mal mehr ihre Grundbedürfnisse sichern können: Wohnen, Kleidung, Essen. Um vor Armut zu schützen, reichen Grundsicherung, Wohngeld und Bafög längst nicht mehr, resümiert der Paritätische Wohlfahrtsverband und fordert: Anheben, jetzt.
Die Angst wohnt in ihrem Innern
Berlin-Wedding im November. Es ist 16 Uhr und schon dunkel in der Sprengelstraße. In den Cafés klappert das Geschirr, Familien tragen schwere Einkaufstüten nach Hause, eine Handvoll Jugendlicher schlängelt sich mit Skateboards vorbei. Ein Altbau, Einfahrt mit Kinderwagen, Laufrädern, Rollern, drei Treppen hoch, die Tür geht auf. „Hallo, ich bin Friederike.“ Eine große Frau mit langen braunen Haaren, wachem Blick und fester Stimme. Die Angst in ihrem Alltag ist ihr nicht anzusehen. Gut versteckt wohnt sie in ihrem Inneren, damit man sie nicht sieht. Durch den engen Flur, vollgestopft mit Schuhen, Jacken, Taschen, Spielzeug, geht es ins Wohnzimmer. Eine Sitzecke aus Matratzen, Kissen, kleinem beigem Sessel, Holztischchen, rechts Terrarium mit Achat-Schnecken, links ein Klavier. „Das haben wir schon vor Jahren geerbt“, sagt Friederike Schlegel und verdreht sofort die Augen. „Es ist ein Automatismus. Wer arm ist, muss sich
rechtfertigen für alles, was nicht zu passen scheint.“
Am Esstisch sitzen Emilia und Finn, umringt von Bastelscheren, Pappen, Stiften, Kleber, Laternensets. Schlegels Handy klingelt, Elke und Angelika* grüßen via Facetime. „Okay Leute, welche Botschaften schreiben wir auf unsere Laternen?“, fragt Schlegel und zieht einen Flyer mit Forderungen von #IchBinArmutsbetroffen aus einer Mappe. „Tax the Rich“, „Chancengerechtigkeit jetzt“, „Finanzielle Sicherheit“. In zwei Wochen geht es wieder zur Demo auf dem Alexanderplatz, mit Laternen und Plakaten. „Denn wir wollen, dass alle unsere Botschaft sehen: Es gibt Armut in diesem Land. Schaut hin und tut etwas.“
Ein halbes Jahr ist es her, dass die heute 40-jährige Anni W. den Hashtag IchBinArmutsbetroffen auf Twitter startet. Auch sie alleinerziehende Mutter, die eine chronische Krankheit in die Armut gestürzt hat. Unter #IchBinArmutsbetroffen macht sie ihrer Verzweiflung Luft (siehe S. 25) und fragt: Gibt es hier noch andere, denen es so geht? Binnen Tagen melden sich Tausende mit ihren Geschichten zu Wort. Erwerbsunfähige, Altersarme, prekär Beschäftigte, Hartz-IV-Empfänger:innen, Studierende. Zwei Wochen später gehen die Ersten auf die Straße. Rausgehen statt verstecken.
#IchBinArmutsbetroffen
Wir alle sind Menschen. Wir haben Leben, Geschichten, Erfahrungen. Wir sind keine „soziale Hängematte“. Wir sind nicht faul. Aber wir sind viele. Ich bin Anni, 39 Jahre alt und beziehe H4. Ich habe mein Fachabitur gemacht, bin durchaus gebildet zu nennen und alles andere als faul. Ich war Babysitter, Servicemitarbeiterin, Krankenpflegerin, Reinigungskraft und Alltagshelferin. Ich habe Depressionen und schwere Arthrose, mit dem ein oder anderen Zusatz. Ich bin alleinerziehend. Ich bin NICHT unsozial, faul, dumm oder kann nicht mit Geld umgehen. Ich bin armutsbetroffen … PUNKT! Ich bin ein Mensch. Keine Zahl, kein Klischee. Und an guten Tagen kann ich sogar lächeln.Tweet von Anni W. (@Finkulasa) am 12. Mai 2022
Die Ziele: Anerkennung, Empowerment, Teilhabe, eine bessere Absicherung. In Hamburg stellen sich Menschen in die Alster und halten Pappschilder in die Luft. „Uns steht das Wasser bis zum Hals.“ In Berlin versammeln sie sich vorm Kanzleramt. In Bochum und Köln bilden sich Flashmobs, in vielen Städten Ortsgruppen. Unterstützt werden sie von der Stiftung EineSorgeWeniger, die seit 2018 über Twitter Armutsbetroffenen Spenden vermittelt, Demo-Materialien stellt und Geld für die Anreise zu Demos vermittelt. „Viele kostet es trotzdem große Überwindung – für Armut Gesicht zeigen tut weh“, sagt Susanne Hansen, die von Anfang an in Hamburg mit dabei war und heute Bundes-Sprecherin der Initiative ist.
Mit Mythen über Armut in Deutschland aufräumen
Und es erfordert Kraft, gerade von jenen, die psychisch krank sind oder kaum noch mobil. „Manche liegen nach einer Demo drei Tage lang flach.“ Und stets ist da die Frage: Wird mich jemand erkennen, wird es mir schaden, zum Beispiel auf der Jobsuche? Schlegel nimmt meist ihre Jüngsten mit auf die Demos, wenn sie wollen und weil sie keine Betreuung hat – verkleidet als Spiderman oder als Fee geschminkt, damit sie niemand erkennt.
Es sind die Stigmatisierung, die Ignoranz und die falschen Mythen, die sich um Armut ranken, die am meisten wehtun, wenn man nicht viel hat. Dass sich viele Menschen nicht vorstellen können, wie es ist, wenn die Freundin der Tochter zur Übernachtung kommt und sich das Frühstück für den nächsten Morgen selbst mitbringt, erzählt Schlegel. Wenn die Nüchternheit der Behörden einem den Boden unter den Füßen wegzieht, weil man acht Wochen lang nicht weiß: Kann ich in meiner Wohnung bleiben oder nicht?, sagt Hansen.
Wenn man sich in Ausreden flüchtet, um Einladungen zu Freund:innen zu entgehen – weil man nichts mitbringen kann. „Das Selbstwertgefühl ist im freien Fall.“ Wenn die Isolation Alltag wird, weil die 15 Euro für soziale Teilhabe in der Grundsicherung für Gemüse draufgehen. Wenn man das letzte Kleingeld für neue Winterschuhe für den Sohn zusammenkratzt und Bekannte sagen: „Du hast doch noch das Kindergeld.“ Hansen: „Dabei wird es mit Hartz IV verrechnet.“ Und wenn es wieder heißt: Faul, ungebildet, selbst schuld.
Irina Volf schüttelt den Kopf. Die Wissenschaftlerin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt am Main erforscht Armut und ihre Folgen. „Es ist ganz wichtig, mit diesen Mythen aufzuräumen.“ Faul? „Gerade mal 5,5 Prozent der armen Menschen haben keine Arbeit, mehr als ein Viertel ist erwerbstätig“, sagt Volf. „Die meisten der anderen können gar nicht arbeiten: Knapp 70 Prozent sind im Ruhestand, unter 18, erwerbsunfähig, in einer Weiterbildung, pflegen Angehörige oder kümmern sich um kleine Kinder.“ Jede dritte Familie mit mehr als drei Kindern ist von Armut betroffen, 42 Prozent der Alleinerziehenden sind armutsgefährdet. Ungebildet? „Keineswegs. Die Hälfte der Armen hat eine mittlere Qualifikation (Abschluss 10. Klasse, Lehre), 13,5 Prozent sogar eine hohe (Abitur, Studium).Doch mittlere Qualifikationen reichen oft nicht mehr, um einen guten Job zu finden.“
Auch die verbreitete Vorstellung, die Mehrheit der Armen habe eine Migrationsgeschichte, treffe nicht zu. Zwar ist das Risiko für sie doppelt so hoch, arm zu werden, dennoch haben 54 Prozent der Armen insgesamt keine Einwanderungsgeschichte. Und schließlich werde Armut seltener „vererbt“, wie in öffentlichen Debatten oft behauptet.
Das ganze Leben lang arm
Das hat Volf mit der Arbeiterwohlfahrt in einer Langzeitstudie zur Kinderarmut untersucht. Ergebnis: „Etwa zwei Drittel der Kinder aus armen Familien gelingt es bis zum 25. Lebensjahr, die Armut hinter sich zu lassen“, so Volf. Allerdings wird es immer schwieriger, aus der Armut rauszukommen: „In den 1970ern schafften es 6 von 10 armen Menschen innerhalb von fünf Jahren aus der Armut heraus“, so Volf. „Heute sind es gerade mal 3 von 10.“
Mario Schubring weiß das. Er ist 53 und schon sein ganzes Leben lang arm, auch wenn er sich lange nicht so gefühlt hat. „Es war halt einfach wenig Geld da.“ Bis vor zehn Jahren hat er die brutale Gewalt seiner Kindheit in sich begraben. Den Vater, der ihn, den Jüngsten von sechs Kindern, täglich schlug, oft mit der Holzprothese für sein Bein, das er im Weltkrieg verloren hatte. Die Mutter, die sich in Alkohol flüchtete und bei einem Sturz auf die Kante des Gasherdes starb, als er zehn war.
Die Heime in der DDR, in denen er Jahre verbrachte, geprägt von Gewalt und Demütigungen. Es hat ihn klein gemacht und seltsam, so sagt er, zu einem, der sich selbst nicht mag und anderen misstraut. Einen guten Job fand er nie. Wie auch, als Schulabbrecher und ohne richtige Ausbildung? So schlug er sich durch: Staplerfahrer, ABM, Zeitarbeit, Hilfsjobs. Bis 2011 seine Kindheit mit Panikattacken zurückkam. Postraumatischer Schock. Arbeit? Unmöglich. Heute bekommt er Erwerbsunfähigkeitsrente.
Berlin Friedrichshain, Insel Strahlau. Die ersten Frostspuren legen sich wie ein Netz über den Gehweg auf der Elsenbrücke. Schubring hat seinen Hoodie unter der schwarzen Camp-David-Jacke hoch über den Nacken gezogen, seine Hände graben sich tief in die Taschen. Er kommt immer wieder hierher, auf der Insel ist eines der Heime seiner Kindheit. Er hat Therapien gemacht, seine Geschichte aufgearbeitet. Hat gelernt, sich durchzuwurschteln in diesem Leben, in dem er die Armut nie abschütteln konnte.Zwei Monate muss er sparen auf einen Hoodie für 30 Euro. Wenn er für die Wohnung etwas braucht, stöbert er im Sozialkaufhaus Helfende Hände.
„Bei #IchBinArmutsbetroffen habe ich eine neue Heimat gefunden.“
„Es ist, wie es ist“, sagt Schubring. Aber wenn, wie immer mal wieder, alte Bekannte, die Arbeit gefunden haben, zu ihm sagen, „Ich bin halt nicht wie du“, möchte er schreien. Gern würde Schubring arbeiten gehen. Wenn er könnte. Auch für kleines Geld. Hätte er sonst ehrenamtlich drei Jahre in einer Bücherstube gearbeitet, viermal die Woche 2,5 Stunden? Mehr ist nicht drin. „Die Bücherstube und das Lesen waren meine Zuflucht, haben mir Kraft gegeben und etwas Anerkennung.“ Als die Bücherstube im letzten Winter nicht mehr heizen kann, weil es an Geld fehlt, hört er auf, fällt in ein Loch. Dann stößt Schubring auf den Hashtag bei Twitter. „Bei #IchBinArmutsbetroffen habe ich eine neue Heimat gefunden.“
Einmal die Woche trifft er sich mit Friederike Schlegel und den anderen von der Berliner Ortsgruppe zum Austausch, plant Aktionen und Demos jeden dritten Samstag. Mit weichen Knien und der flauen Angst im Magen, ausgelacht zu werden, weil er ist, wie er ist, und sich das wie so wenig anfühlt, hat er sich im Frühling zu den ersten Flashmobs getraut. Und dann sind da plötzlich Menschen, 30, 40, 50 Jahre alt, die ihn hören wollen, sein Lächeln mögen und seine hilfsbereite, ruhige Art. „Ich bin selbstbewusster geworden und traue mich langsam wieder in Gesellschaft“, sagt er. Friederike Schlegel nickt: „Wir sind Freund:innen geworden. Es hilft, Menschen zu haben, die wissen, wie es ist, arm zu sein.“
Von solchen Erfahrungen hört #IchBinArmutsbetroffen-Sprecherin Susanne Hansen oft. „Das gemeinsame Engagement verändert.“ Da ist jener Mann, der vor der ersten Demo sagte: „Was habe ich schon zu erzählen?“ und heute Motor der Ortsgruppe Kiel ist. Da ist die Frau, die es vor Monaten kaum aus dem Haus geschafft hat und jetzt ein Praktikum beginnt. Hansen: „Und auch ich bin plötzlich gleichberechtigter Teil einer Gruppe: Hier fühle ich mich nicht weniger wert als die anderen, weil ich mir nichts leisten kann, sondern stehe mittendrin.“
Wir müssen den Sozialstaat wieder stärken
Armutsforscher Christoph Butterwegge ist optimistisch. „Endlich bekommt Armut eine Stimme – von denen, die sie betrifft.“ In ihren Geschichten zeigt sich, dass Armut eben kein individuelles Versagen ist, sondern ein strukturelles. Dass sie alle treffen kann. Sichtbar machen ist nur der erste Schritt, die Strukturen ändern der entscheidende. Verantwortlich sei ein ganzes Bündel von Schieflagen, so Butterwegge: die Deregulierung des Arbeitsmarktes, allen voran ein Niedriglohnsektor, der seit 2010 um etwa 25 Prozent gewachsen ist; der Rückbau des Sozialstaates, von der Abschaffung der Sozialhilfe zugunsten von Hartz IV bis zu sinkenden Renten und einer Teilprivatisierung der Altersvorsorge; die steuerpolitische Ungleichheit.
„Die Vermögenssteuer abschaffen und Mehrwertsteuer anheben ist nicht zu rechtfertigen“, sagt Butterwegge. „Wir müssen diese Entwicklungen endlich korrigieren und den Sozialstaat wieder stärken.“ Das auf Druck der Union abgespeckte Bürgergeld mit 53 Euro mehr im Monat, etwas weniger Kontrollen, etwas mehr Zuverdienstmöglichkeiten und minimal mehr Schutz von Erspartem, wird wenig an diesen Strukturen kratzen.“
Vielleicht aber wird es die Kraft einer Bewegung schaffen, indem sie Armut ins öffentliche Blickfeld rückt. Zwar gehen bei manchen Demos nur einige Handvoll auf die Straße, doch sie bleiben dabei, Woche für Woche. Sind präsent in Medien, landauf, landab. Rücken ins Visier der Wissenschaft, Forschende an der Universität Hamburg planen eine Studie. „Aufgeben ist keine Option“, sagt Sprecherin Hansen. Sie hat wieder Fuß gefasst in ihrem Beruf als Journalistin. „Ich arbeite seit zwei Wochen wieder selbstständig und bin nicht mehr arm – aber ich bleibe dabei.“ Die Debatte ist angestoßen, den Blick abwenden geht nicht mehr. Und neue Bündnisse entstehen.
Es ist Samstag. Vor dem Himmel über dem Roten Rathaus in Berlin tanzen Plakate. „Löhne rauf“, „Seid ihr bescheuert? Alles ist zu teuer!“ Siebzig Initiativen haben das Bündnis „Umverteilen“ gebildet: #genugistgenug, #sanktionsfrei oder #werhatdergibt, die Linke ist dabei, die Europapartei Volt, die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Unten vor der Bühne stehen Mario Schubring, Elke und die anderen der Ortsgruppe, nur Friederike Schlegel nicht, die Kinder sind krank. Elke tritt ans Mikro, ihr Manuskript zittert. „Ich bin hier, damit mein Kind einmal sagen kann: Meine Mutter hat hier gesprochen, um zu zeigen, dass wir Armutsbetroffenen sichtbar werden müssen.“ Damit sich endlich etwas ändert.
Aktivistin der Initiative #IchBinArmutsbetroffen: Es sind die Stigmatisierung, die Ignoranz und die falschen Mythen, die sich um Armut ranken, die am meisten wehtun, wenn man nicht viel hat (Archivbild).