Heute jagt Christina Fuchs Bauteile. In Hamburg-Altona wird ein Wohnhausrückgebaut, oder wie sie sagt, „geerntet“. Der scharfe Nordwestwind rüttelt am 90 Jahre alten Betonskelett, als wolle er mithelfen. „Früher hätten wir das Abriss genannt. All die wertvollen Rohstoffe wären als Bauschutt entweder entsorgt oder in den Straßenbau versenkt worden.“ Seit einiger Zeit ist der Abriss streng verboten. Nur, wenn nachgewiesen wird, dass keine andere Option besteht, dürfen Gebäude vorsichtig abgetragen werden. Müll sind sie deswegen noch lange nicht. Sondern „urbane Minen“, so Fuchs. Sie sucht geeignete Bauteile für ihren neuesten Umbau. Der letzte Neubau ist Jahre her, Genehmigungen sind Mangelware. Nur unter zwei Bedingungen ist Neubau überhaupt noch möglich: Wenn Grundstücke durch Rückbauten frei werden, wie hier, oder wenn gleichzeitig anderswo versiegelte Flächen renaturiert werden. Als Kompensation. So sank der Flächenfraß durch neue Siedlungen und Straßen drastisch. Im Jahr 2021 lag er bundesweit noch bei 55 Hektar – pro Tag. Rund 78 Fußballfelder.
Das sogenannte Bauteiljagen gehört zu Fuchs’ Job als Architektin. Was gerade verfügbar ist, bestimmt ihren Entwurf.„Design by availability“ heißt das und funktioniert ein wenig wie Lego, sagt sie: „Da schaut man ja auch zuerst, was da ist, bevor man anfängt zu bauen. Nur, dass meine Bausteine unterschiedlich groß, schwer und alt sind.“ Gesammelt hat Fuchs bisher vier Stahlträger, mehrere Deckenelemente und Rahmen; heute geht’s um ein paar nicht tragende Wände. Reserviert sind sie schon. Denn das marode Gebäudeist als digitaler Scan inklusive Materialpass online zu finden.
„Sie da, Achtung!“, ruft ein Bauarbeiter Fuchs zu, die schnell zur Seite springt und sich an einem der großen weißen Batterie-Container abstützt. Gerade rechtzeitig, bevor ein Radlader lautlos an ihr vorbeirollt. „An die Idylle muss ich mich noch gewöhnen“, lacht Fuchs und atmet tief ein, als stünde sie am Meer. Seitdem selbst schwere Maschinen wie Bagger und Turmkrane nicht mehr mit Diesel, sondern Strom laufen, ist die Luft auf Baustellen in Ordnung. Ein paar Meter weiter zerbricht jemand mit einem E-Presslufthammer eine Mauer. Warum? Fuchs zeigt auf Geräte am Rande eines großen Gerüsts mit Roboterarm. „Dinge, die wir nicht als ganzes Bauteil wiederverwenden können, werden zerkleinert und dort zu einem 3D-Material verarbeitet, mit dem sich der neue Rohbau computergesteuert drucken lässt.“ Das spart eine Menge Material und Zeit. Schon bald wird der Roboterarm hier seine Bahnen ziehen, eine cremige Schicht nach der anderen, wie der Spritzbeutel einer Konditorin voller Zuckerguss. Sechs Stockwerke mit geschwungenen Kurven und sanfter Maserung, als hätte man sie nicht gebaut, sondern gezeichnet.
Inzwischen schafft die Technik sogar horizontale Elemente, wie Decken. Das war ihr Durchbruch. In Ländern, wo die Städte noch nicht so verdichtet sind wie in Zentraleuropa, werden nun Neubauten aus Lehm oder Recycling-Beton gedruckt. In neubauarmen Regionen findet die „additive Fertigung“ meist hinter geschlossenen Türen statt. In großen Fabrikhallen werden Bauteile gedruckt und dann dorthin transportiert, wo gerade umgebaut, saniert oder aufgestockt wird. Rund 1,5 Millionen Wohneinheiten konnten bislang durch Aufstockung in Deutschland geschaffen werden – auf Parkhäusern, Supermärkten, Büro- und Verwaltungsgebäuden.
Kreislauffähiger Bausektor: Wohnen in der Kabelfabrik
Ein paar Straßen weiter, in einem Umbauprojekt von Fuchs, steht ihr Kollege Luis Elbaz. Gemeinsam machen sie einen erschöpften Ziegel-Riesen wieder munter. Einst Kabelfabrik, dann Großraumbüro, jetzt Wohnhaus. Trotz staatlicher Strafsteuer stand die alte Fabrik jahrelang leer, bevor Elbaz sie entdeckte. Immer häufiger fallen dem Architekten Kirchen und Parkhäuser in die Hände, die aufgrund sinkender Mitgliederzahlen und weniger Parkplatzbedarf in den autofreien Innenstädten zur Umnutzung freigegeben werden. Damit das Projekt genehmigt wird, müssen viele Auflagen erfüllt sein. Primärrohstoffe sind nur erlaubt, wenn der Markt gerade nicht genügend Recyclingmaterialien hergibt; und sie sollten aus regenerativen Quellen stammen. Jedes Element muss demontierbar sein und wird gechipt –„quasi Routine“, sagt Elbaz. Nicht so gelassen sieht er die Diskussion über einen urbanen Quadratmeterdeckel für Wohnraum. „Was früher Flugscham war, ist heute Wohnscham. Klar, wir schlagen damit zwei Fliegen mit einer Klappe, Energiekrise und Wohnungsnot, aber das wäre ein zu harter Eingriff in die Privatsphäre.“ Es geht um 35 Quadratmeter pro Person, der Durchschnitt von 1990, rund 20 Quadratmeter weniger als heute. Das würde bedeuten, dass die Mietverträge künftiger Um- oder Neubauten eine Mindestanzahl Mieter:innen enthalten. Für Menschen, die in Wohnungen oder Häusern mit leer stehenden Zimmern leben, gibt es Plattformen wie Homemates, die sie mit Wohnraumsuchenden matcht; der Umbau wird staatlich gefördert.
Room as a service
An der Petition, die nun im Bundestag verhandelt wird, hat Valerie Schott mitgewirkt. „Aus der Glücksforschung wissen wir: 25 Quadratmeter pro Person reichen als SafeSpace, sofern es genügend öffentliche Räume gibt, Cafés, Parks“, sagt die Bauwende-Aktivistin. „Wo mal geparkt wurde, wird jetzt gelebt.“ So ließen sich Wohnraumreserven schaffen für bis zu 30 Millionen Menschen, ganz ohne Neubau. In Metropolen wie Tokio kämen die Menschen doch schon lange mit nur 20 Quadratmetern aus. „Unser Komfortlevel sinkt nicht. Es ist seit Langem einfach viel zu hoch.“ Ingenieurin Schott entwickelt eine App, die das Teilen von Gebäuden einfacher macht: „Room as a service“ für Büros und Wohnungen. Ihr Team sitzt selber in einem der neuen Komplexe, die sich unter der Woche abends und am Wochenende verwandeln: etwa in eine Abendschule für Sprachkurse, ein Yoga-Studio oder einen Second-Hand-Markt.
Solche Sharing-Konzepte sind auch im Bauwesen angekommen. Module, also standardisierte Bauteile, die vorgefertigt werden und sich dann auf der Baustelle ineinanderklicken, -schieben oder -schrauben lassen, sind meist vom Hersteller gemietet. So gehen die verarbeiteten Rohstoffe nicht verloren. „Seit wir weniger mit Beton und Stahl bauen, denken wir Häuser nicht mehr als Festungen. Statt Permanenz zählt jetzt der Kreislauf“, sagt Elbaz. Was heute gebaut wird, steht zwar nicht 100 Jahre unverändert herum und braucht mehr Pflege als früher, lässt sich aber problemlos auseinandernehmen und recyceln. Obwohl es wie ein Mosaik aus vielen verschiedenen Einheiten besteht. Hochhäuser nur aus Holz, das war mal ein Traum, so Elbaz, der vielerorts nicht aufgeht. Schon bevor der Nadelbaumbestand wegen Dürren und Schädlingen einbrach, standen schnell wachsende, heimische Pflanzen wie …
Wohnhaus aus dem 3D-Drucker.