Die Gärten von Venedig duften nach Jasmin, Rosen und Schweiß. Im stickigen Inneren der Ausstellung-Pavillons der Giardini erwartet einen die Dekonstruktion ihrer selbst. Der deutsche Pavillon ist bis unter die Decke mit Bauschutt, Holzstapeln und Materialcontainern vergangener Biennale-Austellungen gefüllt. An ringsum aufgestellten Werkbänken recyceln Besucher:innen trotz Sommerhitze daraus eifrig Leder für Taschen oder drechseln Möbel.
Im brasilianischen Pavillon, dem diesjährigen Gewinner des Goldenen Löwen für die beste nationale Arbeit, ist dunkle Erde aus dem Amazonasgebiet aufgehäuft, die Betonwände sind mit afrobrasilianischer Alaká-Webkunst in Weiß und Rosa bedeckt, um die umweltzerstörerische Dimension des Baumaterials zu kritisieren. Die Verhüllung macht auch darauf aufmerksam, dass die westlich geprägten Hochhäuser in der quasi über Nacht gebauten Landeshauptstadt Brasília zwar von Afrobrasilianer:innen, aber keineswegs für sie gebaut wurden. Im Brasilien-Pavillon geht es daher gerade nicht um Oscar Niemeyers Zement-Kolosse, sondern um die Architektur in Pequena África, den Schwarzen Wohnvierteln in Rio de Janeiro, in denen der brasilianische Nationaltanz Samba erfunden wurde.
Unter dem Motto der Entkolonialisierung
Das Motto der diesjährigen Biennale ist: „The Laboratory of the Future: Decarbonization and Decolonization“. Zum ersten Mal leitet mit Lesley Lokko eine afrikanische Frau eine Architekturbiennale. Eine Provokation für die männlich und weiß geprägte Welt der Architektur, die sie zu einem neuen Blick auf sich selbst zwingt. Lokkos Biennale ist eine mal spielerische, mal düstere Kritik, sowohl an dem CO2-Ausstoß der eigenen Veranstaltung, die von Jahr zu Jahr größer wird, als auch an dem exorbitanten Fußabdruck der Baubranche selbst. Vor allem aber stellt sie den afrikanischen Kontinent und seine Diaspora in den Mittelpunkt. „Der Schwarze Körper war eine Ressource für Europa“, sagte Lokko bei der Presseführung am Eröffnungswochenende, daher wird Europa damit konfrontiert, das westliche, historisch zutiefst koloniale Verständnis von Architektur komplett zu hinterfragen – und einzutauchen in eine andere, ältere Ästhetik und nachhaltige Baukunst. Eine oft sehr abstrakte Mischung aus Kunstinstallationen, Holzmodellen von geplanten Gebäuden und virtuellen Fantasien für die Dörfer und Städte von übermorgen entführt in dramatische Bildwelten. Es geht um Black Pride und um die Suche nach einer Formensprache, die zum eigenen Kontinent passt.
Parlament der Geister
Im Zentralpavillon betritt man das „Parlament der Geister“ des ghanaischen Künstlers Ibrahim Mahama. Von den Proportionen ist es haargenau so angelegt wie das Unterhaus in Westminster, nur dass man sich hier nicht auf grünen Ledersesseln, sondern auf abgewetzten, schlammfarbenen Plastiksitzen niederlässt. Dahinter stehen verblichene Aktenregale gefüllt mit kolonialen Schulbüchern und anderen Erinnerungen an die Zeit vor der Unabhängigkeit Ghanas vom britischen Empire.
Was 2019 als Kunstprojekt begann, hat Mahama 2020 in ein echtes Gebäude transformiert: Der Innenhof seines Red Clay Studios, eines kostenlosen Hubs für Kunst, Bildung und Zusammenkunft, versetzt den Grundriss des englischen Unterhauses in das Herz von Ghana, in Mahamas Heimatstadt Tamale. In dem architektonischen Zwilling der alten imperialen Institution kommen nun junge Schwarze Menschen in ihrem eigenen Parlament zusammen, um zu diskutieren und Kunst zu machen. Es ist gebaut aus Lehmziegeln, einem der ältesten nachhaltigen Baustoffe der Welt.
Fast allen Exponaten ist gemein, dass sie statt einer künstlichen Rekonstruktion der Ästhetik vor der Kolonialzeit die zeitgenössische Vermischung der Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent und in der Diaspora widerspiegeln: So steht man in einem schwarz ausgekleideten Raum vor beleuchteten Modellen des britisch-ghanaischen Stararchitekten David Adjaye. Er darf hier sein komplettes Programm für das kommende Jahrzehnt vorstellen, darunter ein ehrgeiziges Projekt für den Bau von 100 nebeneinanderstehenden Krankenhäusern, aber auch die palmengesäumte Nationalkathedrale in der Hauptstadt Accra, die sich bereits im Bau befindet.
In dem heute mehrheitlich christlichen Land entsteht die interkonfessionelle Kirche in einer Optik, die die verschiedenen ethnischen Gruppen Ghanas würdigen soll: Das hohe, gestaffelte Zeltdach ist der Architektur des Akan-Volkes nachempfunden, die geschwungene Fassade soll an die Königsstühle der Ashanti erinnern. Was man in der Ausstellung nicht erfährt: In Ghana, wo die Menschen derzeit unter hoher Inflation und Arbeitslosigkeit leiden, wird das Milliardenprojekt wegen seiner Kosten zum Teil heftig kritisiert.
(Noch) nicht umstritten ist das Modell der von Adjaye entworfene Thabo Mbeki Presidential Library in einem Vorort von Johannesburg: Die tonnenförmigen Türme des Bildungszentrums sind von der Silhouette von Getreidesilos inspiriert und sollen sowohl Stolz auf die landwirtschaftlichen Reichtümer des Landes ausdrücken, als auch die traditionellen Rundbauten Westafrikas widerspiegeln. Gefertigt sind sie aus dem in Nordafrika bereits in der Steinzeit erfundenen Stampflehm, einer Mischung aus Erde, Sand, Kalk und Schotter, die entweder per Hand oder durch Maschinen in eine Form gerammt wird. Das Gebäude soll mit Solarenergie und Geothermie betrieben werden und als Ort für den Austausch verschiedener afrikanischer Kulturen dienen, außerdem ein der Unterstützung und Stärkung von Frauen gewidmetes Zentrum beherbergen.
Afroamerikanische Diaspora
Verlässt man den Zentralpavillon, weht einem die sanfte Salzbrise der nahe gelegenen Lagune ins Gesicht. In einem kleinen Garten plätschert ein Bach. Der US-amerikanische Architekt Walter Hood hat hier „Native(s) Lifeways“ gebaut, einmal als Modell und einmal als lebensechte, bewachsene Skulptur: ein Netz aus Korridoren und Pavillons für die Feuchtgebiete von South Carolina. Die luftigen Holzstrukturen gleichen einem sehr gewagten Mikado-Spiel. Ihre Form ist von Körben aus geflochtenem Süßgras inspiriert, wie die dort ansässigen afroamerikanischen Gullah sie fertigen. Das Volk stammt von den Plantagen-Sklav:innen der Südstaaten ab und ist für seine allen rassistischen Widerständen zum Trotz gelungene Bewahrung seiner afrikanischen Handwerkskultur berühmt.
Ein anderer Entwurf aus der afroamerikanischen Diaspora funkelt in wunderschönen Ornamenten aus Glas, adressiert aber die Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen in den USA. Ein Haus in Chicago wird mit Fenstern aus einem persischen Kristall-Mosaik versehen, das die sich darin aufhaltenden Menschen von außen optisch so verzerrt, dass sie nicht als Schwarze Menschen identifiziert und somit nicht aufgrund ihrer Hautfarbe angegriffen werden können.
Mobiles Schulhaus Classe Rouge
Die Exponate führen die Geschichte der Gewalt, mit der Afrika und seine Diaspora bis heute kämpfen, schonungslos vor. Gleichzeitig bestechen sie aber auch mit ihrer Vorstellungskraft und ihrem Optimismus.
Mit dem venezianischen Wasserbus, dem Vaporetto, geht es einmal quer über den Canale Grande und an den herrschaftlichen Palazzi und Gondeln vorbei ans andere Ende der Stadt, in das Viertel Cannaregio. Hier, im cremefarbenen Palazzo Mora, findet eine kostenlose Begleitausstellung zur Biennale statt, in der es um urbane und klimafreundliche Lösungen für eine stetig wachsende Bevölkerung geht.
Hier stellt ACTA, Action through architecture, aus: Das Architekturbüro mit Sitz in Niger und in der Schweiz hat sich auf humanitäre und nachhaltige Architektur spezialisiert. Die Architekt:innen wollen Gebäude bauen, die am dringendsten benötigt werden. Solche, die schnell gebaut werden können und dabei trotzdem nachhaltig sind. In Niger sind das zum Beispiel Schulen. Eine Mutter bekommt dort im Schnitt 6,7 Kinder. Die Bevölkerung wächst rasant. Die ACTA- Architekt:innen nennen ihr Modell für ein solches Schulhaus „Classe rouge“, die rote Klasse.
Im Gegensatz zu den meisten provisorischen Schulen im Land, die aus leicht entflammbaren Materialien wie Stroh bestehen, hat ACTA für Classe rouge eine Konstruktion aus leicht montierbaren, mobilen Metallbögen entwickelt, über die erst eine dünne Betonmasse und dann eine Schicht aus kühlenden, gepressten und wiederverwendbaren Lehmziegeln gespannt wird. Die Ziegel werden nicht als geschlossene Mauer verlegt, sondern als luftiges Raster, durch das Luft permanent zirkuliert und Sonnenlicht so gefiltert wird, dass es im Klassenzimmer zwar hell, aber nicht heiß wird. Ein solches Schulhaus kann schnell ab- und wieder aufgebaut werden: da wo es gerade am meisten gebraucht wird. Elemente wie die grünen Tür- und Fensterläden aus Holz als Kontrast zu den erdigen Tönen des Gebäudes sollen es luftig, fröhlich und lebendig wirken lassen. So ganz anders eben als die stickigen, grauen Pavillons in den Gärten Venedigs.
Die diesjährige Architekturbiennale in Venedig kann noch bis zum 26. November 2023 besucht werden.
Eine typisch westafrikanische Lehmwand von Francis Kéré.