Digitalisierung

Wo 6-Jährige Fake News erkennen

Finnland ist besonders gut darin, seine Bevölkerung gegen Desinformation zu imprägnieren. Wie macht es das?

Leo Pekkalas Job wirkt nicht besonders spektakulär. Als stellvertretender Direktor des National Audiovisual Institute in Helsinki, kurz Kavi, regelt er zum Beispiel die Altersbeschränkungen von Filmen und Serien. Doch das ist nicht der Grund, weshalb gerade so viele Medien aus aller Welt mit ihm sprechen wollen.

Der Grund ist der zweite Job des Kavi: Es koordiniert und überwacht die Umsetzung der finnischen Strategie für Medienkompetenz – und ist damit maßgeblich dafür verantwortlich, die Bevölkerung gegen Fake News und Desinformation zu wappnen. Weil das so hervorragend gelingt, sind Expert:innen wie Pekkala gefragte Gesprächspartner:innen. Neulich hat er Zeitungen aus Brasilien und Malta Interviews gegeben, auch die New York Times zitiert ihn. „Ein Interview wie dieses führe ich ungefähr einmal die Woche“, sagt Pekkala im Videocall.

Überragendes Vertrauen in seriöse Medien 

Manipulierte Videos von Politiker:innen, gefälschte „Doppelgänger-Websites“, die gezielte Verbreitung von Lügen – Desinformation ist weltweit nach Untersuchungen des Weltwirtschaftsforums ein wachsendes Problem, auch in Deutschland. So sehen das nicht nur Expert:innen, sondern auch die Menschen selbst. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2024 sagten 84 Prozent der Befragten, Desinformation im Internet sei ein großes oder sehr großes Problem für die Gesellschaft. Die Studie zeigt auch: Viele haben Schwierigkeiten, die Inhalte, auf die sie stoßen, einzuschätzen. Fast die Hälfte ist unsicher, ob Informationen im Netz der Wahrheit entsprechen.

Wie also lässt sich die Resilienz der Bevölkerung gegen Desinformation und Fake News stärken?

Finnland gilt als Vorbild. Denn das 5,6-Millionen-Einwohner:innen-Land, das eine 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt, führt seit Jahren den European Media Literacy Index an. Das Ranking des Open-Society-Instituts aus Bulgarien misst, wie widerstandsfähig die Bevölkerung der 41 untersuchten Länder gegenüber Desinformation und Fake News ist. Deutschland lag in der jüngsten Erhebung, 2023, nur auf Platz 11. Auch bei den digitalen Kompetenzen liegt Finnland vorn, wie eine Studie des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation (bidt) herausgefunden hat.

Verlässliche und seriöse Medien sind wesentlich im Kampf gegen Desinformation. Doch sie bilden nur eine Seite der Medaille, denn die Menschen müssen diesen Medien auch vertrauen. Nur wenn Bürger:innen sicher sind, wo sie verlässliche Informationen bekommen, können sie wahr von falsch unterscheiden. Und dem Digital News Report 2024 des Reuters-Instituts zufolge vertrauen in keinem der 47 untersuchten Medienmärkte weltweit die Menschen den Medien ihres Landes so sehr wie in Finnland.

Der verstorbene Papst in Daunenjacke (li.), Ex-Präsident Joe Biden mit künstlich eingebauter Windel (re.), Fotos: Generiert mit chatgpt bearbeitet durch Grafik Good Impact

Wie machen die das nur?

Für Leo Pekkala ist es klar: Vertrauen schafft man mit guter Medienbildung. Schon in den 1970er-Jahren wurde sie in den nationalen Lehrplan aufgenommen, und zwar nicht als eigenes Fach, sondern als Teil des gesamten Lehrplans. Möglichkeiten gibt es in jedem Schulfach: In Geschichte kann man über Mechanismen von Propaganda sprechen, im Matheunterricht über die Funktionsweise von Algorithmen.

Digitales Storytelling üben, TikTok kritisch hinterfragen

Damit geht es früh los. „Finnland schult Sechsjährige darin, Fake News zu erkennen“, titelte kürzlich die Helsinki Times und mutmaßte, dass finnische Kinder das schon besser können als die eigenen Leser:innen. Die Kleinen starten spielerisch, Vierjährige machen Fotos mit dem Smartphone und erzählen sich dazu Geschichten. Ältere Kinder und Jugendliche werden in der Schule ermuntert, Inhalte kritisch zu hinterfragen: Was will die Autorin mit diesem Artikel sagen? Welche Gefühle soll dieses TikTok-Video wohl bei mir auslösen?

Geht es in Deutschland um Medienkompetenz, beschränkt sich die Diskussion häufig auf die Schule. In Finnland hingegen ist Medienbildung Teil einer nationaler Medienstrategie für alle Altersgruppen, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die tief in den Alltag reicht. Um möglichst viele Menschen, auch auf dem Land, zu erreichen, arbeitet der Staat mit NGOs zusammen, die vor Ort gut vernetzt sind. Mittlerweile  durchzieht ein Netz von Anlaufstellen für Medienfragen den finnischen Alltag. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Bibliotheken, die es in fast jeder Gemeinde gibt. Wenn nicht, kommt der Bibliotheks-Bus aufs Land.

Die Büchereien klären gezielt über Desinformation auf, manchmal passiert das aber auch scheinbar nebenbei: In vielen Bibliotheken gibt es Ehrenamtliche, die ältere Menschen bei Anliegen unterstützen, die sich oft nur noch digital erledigen lassen, etwa bei der Steuererklärung. Nebenbei sprechen sie mit ihnen über das Internet und dessen Inhalte. Junge Familien gewinnt Kavi-Chef Pekkala durch die Zusammenarbeit mit einer NGO, die Eltern mit kleinen Kindern unterstützt – und im Elterncafé Gespräche über den Umgang mit Medieninhalten anstößt oder Infomaterial verteilt.

Medienbildung in Deutschland ausbauen

Der österreichische Rechtswissenschaftler Matthias Kettemann, der unter anderem am Leibniz-Institut für Medienforschung zu digitalen Kommunikationsräumen forscht, sieht auch in Deutschland gute Voraussetzungen dafür, Medienbildung außerhalb des Klassenzimmers voranzutreiben. Wichtige Partner könnten die Volkshochschulen sein, Bildungswerke, die Kirchen, mittelständische Unternehmen – und Vereine. Warum  nicht  mal eine Expertin in den Gymnastikclub einladen, damit sie erzählt, wie sich Fake News erkennen lassen? Elemente der finnischen Strategie ließen sich durchaus auf Deutschland übertragen, sagt Kettemann. „In den Lehrplänen der Bundesländer steht das alles schon drin. Aber es wird sehr unstrukturiert und wenig systematisch umgesetzt.“

Folgt man Kavi-Chef Pekkala, zeigen alle Maßnahmen nur Wirkung, wenn das Fundament stimmt: „Vertrauen ist der Schlüssel.“ Vertrauen – in die Gesellschaft, in den Staat und seine Institutionen. Es mache die Menschen widerstandsfähiger gegen jede Form von Desinformation. Das führt zurück zur Schule. „Dort lernen die Menschen in Finnland, wie der Staat, wie eine demokratische Gesellschaft funktioniert.“ Ist Vertrauen also etwas, das man unterrichten kann? Pekkala hat darauf eine kurze Antwort: „Ja.

Kick-Off gegen Desinformation

Auch in Deutschland tut sich etwas. Anfang  2025 hat sich auf Initiative des Thinktanks Betterplace die „Allianz für die resiliente Informationsgesellschaft“ gegründet. Das Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, zu dem unter anderem die Investigativ-Plattform Correctiv gehört, will Strategien für eine medienkompetente, demokratische Öffentlichkeit entwickeln. Wie lassen sich Bürger:innen besser in den Dialog einbeziehen? Welche algorithmische Transparenz und Kontrolle braucht es auf Social Media, wie schaffen wir gemeinwohlorientierte, klug regulierte Online-Plattformen und einen zeitgemäßen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem Bürger:innen vertrauen?

resiliente-informationsgesellschaft.org

Foto: Generiert mit chatgpt bearbeitet durch Grafik Good Impact

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Sarah Schaefer

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