Streitgespräch

Droht die EU zu zerbrechen?

Bei den Europawahlen Anfang Juni drohen Parteien der extremen Rechten massiv Stimmen zu gewinnen. Was würde ein Rechtsruck im EU-Parlament für Europa bedeuten? Darüber debattieren Politikberater Peter Jelinek und Staatsrechtler Alexander Thiele von der Business Law School Berlin.

Anfang Juni wählen mehr als 450 Millionen Bürger:innen ein neues Europaparlament. Rechtspopulistische Parteien könnten 20 bis 30 Prozent mehr Sitze gewinnen. Kann die EU daran zerbrechen, Herr Jelinek?

Peter Jelinek: Die Gefahr sehe ich durchaus. Natürlich gibt es kein großes Plopp und die EU ist weg. Aber durch einen Rechtsruck könnte die EU in allen Entscheidungen gefährlich blockiert werden. Ohnehin ist es auf europäischer Ebene zunehmend schwierig Kompromisse zu finden. Das haben wir gerade erst am Gesetz zur Renaturierung geschädigter Ökosysteme in Europa gesehen, das längst unter Dach und Fach schien. Unerwartet hat der ungarische Regierungschef Viktor Orbán die finale Zustimmung verweigert, die eigentlich als Formsache gilt. Nun ist das Gesetz blockiert. Solche Situationen könnten durch einen Rechtsruck massiv zunehmen, vielleicht wäre die EU überhaupt nicht mehr in der Lage, auf Krisen zu reagieren.

Nun gehören Untergangsszenarien seit Jahren zu den Debatten über die EU vor Wahlen.

Jelinek: Jetzt aber besteht zum ersten Mal die reale Gefahr, dass sich die informelle Koalition der demokratischen Kräfte im Europäischen Parlament auflflöst. Bislang haben sich Parlamentarier:innen der europäischen Sozialdemokrat:innen (S&D), Grünen, Liberalen und aus Teilen der konservativen EVP je nach Thema für einzelne Entscheidungen zusammengetan. Jetzt spitzen sich die Krisen zu: Krieg, soziale Ungleichheit, Energiekrise, Desinformationskampagnen, bei den Bauernprotesten brannten die Straßen im Brüsseler Europaviertel. Dadurch flfliegen die Kräfte auseinander, die Demokrat:innen sind sich nicht mehr einig, wie sie darauf am besten reagieren. Auch die Kommission – de facto die EU-Regierung – traut sich nicht mehr Veränderungen anzugehen, geschweige denn durchzusetzen. In dieser Zerreißprobe halte ich es für wahrscheinlich, dass sich auch demokratisch Gesinnte Unterstützer:innen im rechten Spektrum suchen.

Alexander Thiele: Ich bin da positiver gestimmt als Sie. Natürlich sind rechtspopulistische Strömungen eine Herausforderung für die EU, genauso wie für die Nationalstaaten von Indien über die USA bis zum Vereinigten Königreich. Der Rechtsruck bedroht das ganze Gefüge unserer Weltordnung. Es gibt sogar einen für die EU unangenehmen Unterschied: Die rechtspopulistischen Parteien wollen in der EU keine rechte Regierung installieren, sondern verhindern, dass die EU überhaupt funktioniert. Denn je schlechter die EU dasteht, desto stärker zieht das rechtspopulistische Narrativ: Eine Rückkehr zum isolierten Nationalstaat ist notwendig. Deshalb kommt es jetzt darauf an, wie wir mit dieser Situation umgehen. Indem wir zum Beispiel die Konservativen im EU-Parlament unterstützen, die scharfe Kante gegen rechts zeigen. Oder junge Wähler:innen mobilisieren, die 2023 maßgeblich für die Abkehr Polens von den Rechtspopulist:innen gesorgt haben.

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„Es gibt kein Plopp und die EU ist weg. Aber die Rechtsextremen könnten sie gefährlich blockieren.“
Peter Jelinek
Peter Jelinek ist Europaexperte und Herausgeber von „Europas Klimabericht“ zur Umweltpolitik. Von 2019 bis 2023 arbeitete Jelinek als Referent für die europäischen Grünen im Europaparlament. Seit 2023 ist er Politikberater in Berlin.

Jelinek: Richtig, doch wir dürfen die Fülle an Schockwellen, an Krisen, die die EU treffen, nicht unterschätzen. Schrittweise könnte sich die EU so zersetzen, dass sich irgendwann die Frage stellt: Was ist diese EU eigentlich noch? Haben wir gemeinsame Werte? Ist es die Demokratie, das Liberale, der Frieden? Wollen wir ein Europa, das offen ist gegenüber Geflüchteten oder geschlossen? Die SPD hat das Narrativ von rechts ja schon teilweise übernommen, wenn sie sagt, wir nehmen nicht mehr jede:n auf. Gesetzgebung und Beschlüsse werden immer schwieriger, die EU droht sich zurückzuentwickeln zu irgendeiner zwischenstaatlichen Organisation.

Die Frage ist jetzt: Soll aus Europa eine engere Union werden, so wie wir es uns vorstellen, oder begnügen wir uns mit einer Gemeinschaft auf supranationaler Ebene, die nur noch auf Krisen reagiert und vielleicht irgendwann stirbt?

Thiele: Aber ist das nicht ein normaler Entwicklungsprozess jeder politischen Gemeinschaft? Wenn Sie von einem „Europa, wie wir es uns vorstellen,“ sprechen, sage ich: Stopp. Was heißt das denn? Die Mitgliedstaaten sind sich ja gar nicht einig, wo es überhaupt hingehen soll.

Lange war das Narrativ: Wir brauchen einen gemeinsamen Binnenmarkt …

Thiele: … und der Rest sollte irgendwann folgen. Der Binnenmarkt ist jetzt da, wir sind also beim Rest. Aber was soll dieser Rest sein? Wollen wir wirklich eine engere EU und wofür überhaupt? Inwieweit würde zum Beispiel ein europäischer Bundesstaat zentrale Probleme wie Klima, Migration, soziale Ungleichheit besser lösen? Auch in einem Bundesstaat ringen die Mitglieder ja um die interne Kompetenzverteilung, wer hat welche Mitsprache, wie einigen wir uns? Wir können doch nicht so tun, als ließen sich mit institutionellen Reformen die politischen Probleme beseitigen. Die EU ist in den vergangenen 20 Jahren um 13 Mitgliedstaaten gewachsen, da kann man nicht erwarten, dass alles bleibt wie bisher. Darüber müssten wir uns viel mehr politisch streiten.

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Jelinek: Im Europäischen Parlament und im Ministerrat gibt es ja durchaus eine Mehrheit für eine EU mit mehr Kompetenzen, mehr Integration.

Thiele: Selbst wenn – sollen Mitgliedstaaten noch mehr ihrer staatlichen Souveränität an die EU abgeben, brauchen wir Einstimmigkeit. Das müssen alle mittragen. Schauen wir lieber auch auf das, was sich längst entwickelt hat: Ist doch irre, dass sich die EU 2020 zur Abfederung der ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zum Beispiel auf den NextGenerationEUFonds geeinigt hat: 750 Milliarden Euro, das größte Konjunkturpaket, das je aus dem Haushalt der EU finanziert wurde. Das wäre vor 10 Jahren völlig illusorisch gewesen.

„Durch die Kultur parteiübergreifender Kooperation ist die EU wehrhafter als nationale Parlamente“
Alexander Thiele
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Europarecht an der Business & Law School in Berlin. Er forscht zu Demokratietheorie und Europäischer Integration. 2024 erschien sein Buch „Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft Europas”.

Jelinek: Doch das reicht nicht. Wenn die Mitgliedstaaten sich nicht auf einfachere Entscheidungsmechanismen einigen können, müssen halt Länder gehen. Sonst ist sie bald nicht mehr handlungsfähig. Ich halte auch mehr Streit in der EU für keine Chance. Denn jetzt haben wir es mit Rechtsextremen zu tun, die wollen überhaupt nicht konstruktiv streiten, sondern die EU zurückbauen, zerstören, die AfD möchte sogar den Dexit. Und das, obwohl wir gerade sehen, wie schlimm der Brexit dem UK wirtschaftlich schadet. Dass unser Wohlstand dem europäischen Binnenmarkt zu verdanken ist, haben die Leute schlicht vergessen.

Thiele: Politik ist eben nicht immer völlig rational. Aber so anstrengend der politische Modus der EU ist, er funktioniert ja durchaus noch. Es ist immer ein Ringen von 27 Mitgliedstaaten. Wir schachern manchmal, machen Deals. Wir streiten, aber nicht auf dem Schlachtfeld. Das ist doch positiv.

Wenn aber die Rechtsextremen nun eben einen konstruktiven Streit verweigern?

Jelinek: Tja, wenn Leute andere niederschreien, haben wir ein fundamentales demokratisches Problem. Der Diskurs in der EU wird immer ruppiger. Und ich fürchte, dass wir das nicht mehr aufhalten können. Ich erinnere mich noch, wie schon vor drei Jahren die Rechtspopulist:innen bei den Verhandlungen zum Europäischen Klimaschutzgesetz sagten: Wir wollen kein Englisch sprechen. Eine Übersetzung gab es für die Runde nicht, und schon ist Schluss. Das wird immer schlimmer.

Thiele: Immerhin ist die EU durch die Kultur der Kooperation über Parteigrenzen hinweg wehrhafter als viele nationale Parlamente. Das Parlament zerfällt weniger in Fraktionen, die klassische Mehrheiten suchen, sondern sieht sich als Ganzes als Gegenspieler des Europäischen Rates, also der Vertretung der Staats- und Regierungschef:innen. Man ist gewohnt, strittige Fragen einfach rauszulassen und für ein aktuelles Thema Kompromisse zu suchen. Ich denke, nach einem Rechtsruck werden wir zunehmend ein Parlament erleben, das sich in eine – ich nenne es nichtrechtspopulistische – Mehrheit und eine rechtspopulistische, diffuse Minderheit teilt. Zum Glück sind sich die Rechtspopulist:innen oft nicht einig und nutzen ihr Kooperationspotenzial kaum. Wir sehen das gerade am Konflikt zwischen der Parteichefin der französischen Rechten vom Rassemblement National und der AfD. Marine Le Pen distanziert sich scharf vom russlandfreundlichen Kurs der AfD.

Wenn sie sich einigen, wo könnten die Rechtsextremen denn konkret Europa blockieren?

Jelinek: Zum Beispiel in der Verteidigungspolitik. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie, mehr Kooperation und gemeinsame Standards bei den Waffensystemen. Die Bombeneinschläge in Odessa kann man von Rumänien aus sehen, solche Bomben könnten schnell bei uns landen. Aber viele Rechtsextremist:innen unterstützen Wladimir Putin, AfD-Europawahlkandidat Petr Bystron steht im Verdacht, Geld von Russland bekommen zu haben. Die Rechtsextremist:innen scheren sich auch nicht um Vereinbarungen …

… und könnten die Auszahlung der Mittel für die Ukraine blockieren …

Jelinek: … genau. Gravierend wäre auch ihr Einfluss auf die Klimapolitik. Viele Regelungen des Green Deal lassen sich zurückschrauben: den Emissionshandel wieder aussetzen, keinen CO2-Preis einführen, nicht mehr in klimaresistente Städte investieren. Eine einfache „Revision“ reicht, also eine Aussetzung, Verschiebung.

Thiele: Wenn die Rechtsextremen antreten, um die Demokratie von innen kaputt zu machen (dass so was funktioniert, wissen wir von der NSDAP), müssen wir lernen, dem etwas entgegenzusetzen. Entscheidend sind vor allem die Konservativen. Präsentieren sie sich als die naheliegendsten Partner:innen der Rechten? Oder schaffen sie es, sich mit den demokratischen Parteien zu verbünden und zu sagen: Nein, im Zweifel sind wir zu größeren Kompromissen mit den Demokrat:innen bereit, als jemals nach rechts abzubiegen. Denn es geht um das politische Fundament. Mein Eindruck: Leider haben die Konservativen die Gefahr bisher nicht vollständig durchdrungen. Immer wieder kommen Argumente wie: Bei einem guten Antrag ist es doch egal, wer ihn gestellt hat. Die konservative EVP im Parlament müsste irgendwann sagen: Jetzt ist Schluss. Aber derzeit sieht es leider nicht danach aus.

Jelinek: Da bin ich noch optimistisch. Die EVP setzt sich ja wie jede Fraktion aus einem Mix unterschiedlicher Parteien aus den Mitgliedstaaten zusammen. Das erhöht die Chance, dass die radikaleren Stimmen nicht die Oberhand gewinnen und Kompromisse innerhalb der Parteigruppe gefunden werden. So haben die griechischen Konservativen verhindert, dass im Europaprogramm der EVP ein Rückbau des Green Deal verankert ist. Denn sie sehen ja, dass ihr Land von der Klimakrise besonders betroffen ist und in Überschwemmungen ertrinkt.

Warum fällt das Nein Konservativen so schwer?

Thiele: Ein Nein zu den Rechtspopulist:innen fordert von den Konservativen ein großes Maß an Standfestigkeit. Schließlich verzichten sie auf konkrete Machtoptionen. Wenn sich Konservative und Rechtsextreme zusammentäten, wären sie ja sofort an der Macht, in der EU ebenso wie in Deutschland. Die anderen demokratischen Parteien und die Medien sollten daher öffentlich wertschätzen, wenn die Konservativen Stopp sagen, anstatt immer noch mehr von ihnen zu verlangen. Alle demokratischen Parteien müssen jetzt aufeinander zugehen.

Wo haben die Konservativen bereits Kante gezeigt?

Jelinek: CDU-Mann Peter Liese ist Verhandlungsführer für den Emissionshandel im Parlament. Gegen viele Widerstände hat er unglaubliche Kompromisse in seiner Partei erkämpft. So etwas geht leider oft unter. Stattdessen heißt es, die Grünen wollten viel mehr, die Sozialdemokrat:innen was anderes und so weiter. Klar, das gehört zum politischen Spielchen, aber wir sollten in der jetzigen Situation vorsichtig damit umgehen.

„Es ist entscheidend, ob zwanzig oder dreißig Prozent Rechtspopulist:innen im Parlament sitzen“
Peter Jelinek

Wie hart der Rechtsruck ausfällt, entscheidet sich bei den Europawahlen im Juni. Aber viele Bürger:innen zucken die Schultern: Warum soll ich da hingehen?

Thiele: Wahlentscheidungen haben Konsequenzen, auch wenn viele das vielleicht nicht glauben. Doch wer da oben in Europa sitzt, entscheidet über unseren Alltag. Wollen wir, dass kostenloses mobiles Telefonieren in Europa wieder abgeschafft wird? Das geht von heute auf morgen, eine einfache Mehrheit reicht. Dass Lebensmittelstandards fallen, die europäische Wirtschaft abstürzt? Dass das europäische Digitalgesetz in die Tonne gehauen wird, bei allen Mängeln die einzige Regelung weltweit, die der Macht der Techgiganten etwas entgegensetzt? Dass wir europäische Klimaschutzregelungen zurückfahren, die Regierungen meist zu viel schärferen Maß-nahmen verpflichten, als die nationalen Gesetze vorsehen? Dass ein Europa der Abschottung Realität wird? All das entscheidet sich in Brüssel. Ich hoffe, dass die Leute begreifen: Die Europawahl ist nicht einfach eine schöne Gelegenheit für eine Protestwahl.

„Daher sage ich: Leute, geht zur Wahl. Die Rechtspopulist:innen tun es in jedem Fall“
Alexander Thiele

Jelinek: Und es ist ein entscheidender Unterschied, ob zwanzig oder dreißig Prozent Rechtspopulist:innen im Europäischen Parlament sitzen. Umso mehr ärgert mich, wenn Parteien gerade jetzt mit rechten Narrativen spielen. Das ist verantwortungslos. Warum heißt es so oft, die Europäische Union habe in den vergangenen fünf Jahren linksideologisch regiert, obwohl es gerade eine konservativ geführte Kommission gibt? Nur, weil ich beim Stammtisch damit gut punkte? Warum wird vor den Europawahlen immer wieder vom Bürokratiemonster gesprochen …

Jelinek: … dabei hat die Kommission mit 32.000 Mitarbeiter:innen deutlich weniger als die Stadtverwaltung München mit 40.000.

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Ihre Wette: Wie viele EU-Bürger:innen werden zur Wahl gehen?

Jelinek: In Deutschland vielleicht 65 Prozent, das wären immerhin drei Prozent mehr als 2019.

Thiele: Europaweit werden es wohl wieder knapp 51 Prozent. Deshalb kann ich nur sagen: Leute, geht zur Wahl. Die Rechtspopulist:innen tun es in jedem Fall.

Fotos: Patrick Haermeyer, Bogdan Hinrichs

Peter Jelinek und Alexander Thiele im Streitgespräch

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