Aktivisten-Duo Herr & Speer

Die Polit-Influencer

In der Politik kann man nichts bewegen? Von wegen. Eine Begegnung mit den Europa-Aktivisten Vincent Immanuel Herr und Martin Speer.

Mitten auf dem Potsdamer Platz, auf dem Sockel der alten Ampel, sitzt Martin Speer und wartet entspannt. Autos hupen, Busse schnaufen, E-Roller sausen vorbei, über die Kreuzung wälzt sich ein Strom von Tourist:innen. Der einst verkehrsreichste Platz Europas ist noch heute ein Geäst von Hektik, Dynamik und erratischem Individualismus, einer jener Gesellschaftszustände, könnte man sagen, denen Martin Speer gerne Richtung gibt. Weichen stellt, Lösungswege zeigt. Zum Beispiel mit Ideen für die Zukunft Europas. Martin Speer, Basecap, bunte Sneaker, Jeans, breites Lachen, reicht ein blau-gelbes Buch rüber. Europe for Future. 95 Thesen, die Europa retten. „Hier für dich, frisch aus der Druckerei“, sagt Speer und steht auf. „Wollen wir uns einen Kaffee holen?“

Aber, Moment mal. Fehlt da nicht etwas? Jemand? Die andere Hälfte des Duos Herr & Speer, das der Politik seit einigen Jahren Beine macht: Vincent Immanuel Herr. Martin Speer nickt. „Vincent hat heute Kinderdienst.“ Er wird sich später telefonisch vom Wickeltisch dazuschalten. Seit die sechs Monate alte Tochter Aili sein Leben auf den Kopf stellt, treffen sich Herr und Speer regelmäßig per Zoom oder starten, wenn die Elternzeit es zulässt, hier auf dem Potsdamer Platz zu Arbeitsspaziergängen. Tiergarten,  Spree, Regierungsviertel, oft mit Kinderwagen. „Im Gehen lässt sich besser denken“, sagt Speer, schnappt seinen Kaffee und los geht’s.

Herr & Speer also. Die Nachnamen des Teams, die so verwirrend gut zusammenpassen, als seien sie ein Marketinggag, sind längst zu einem festen Begriff verschmolzen, einem Meyer & Söhne der Aktivist:innenszene. Speer lacht. „Auf dem Cover des Europabuches hat der Verlag schon unsere Vornamen weggelassen.“ Seit fast zehn Jahren cruist das Duo jetzt über den Kontinent. Hat kostenfreie Interrail-Tickets für junge Europäer:innen durchgesetzt. Tingelt als HeForShe-Botschafter für UN Women Deutschland durch die Management-Etagen der Republik: „Männer, denkt mal weiter. Nur wenn wir gemeinsam für Gleichstellung kämpfen, wird sie eines Tages Realität.“

Frauenrechte und Europapolitik? Was hat das miteinander zu tun? „Bei beidem geht es ums Brückenbauen. Zwischen Europäer:innen, zwischen Männern und Frauen“, sagt Speer. „Und im Laufe unseres Aktivistenlebens haben wir gelernt, dass man am meisten verändern kann, wenn man alle mitnimmt, statt Andersdenkende auszugrenzen.“ Demokratie-skeptische Menschen in Osteuropa nicht verteufeln, sondern zur Diskussion einladen. Männern, die zotige Sprüche klopfen, nicht Sexismus vorwerfen, sondern Bewusstsein schaffen. 

Und könnten sie nicht Brücken bauen, hätten Herr und Speer vielleicht nie zusammengefunden, so unterschiedlich sind ihre Welten.

Da ist Martin Speer aus Leipzig, Osten. Die Eltern Regimekritiker:innen, 1989 flohen sie über die Prager Botschaft nach Bayern, den Dreijährigen im Gepäck. Sie bleiben die Fremdlinge, für ihn wird es eine Kindheit des Herantastens. Die Eltern raten zu reparieren, wenn andere neu kaufen. Sagen, sei leise, wo andere ermutigt werden: Sei laut. Dessen Familie schließlich zerbricht an der neuen Welt und an sich selbst, die Mutter kämpft mit Depressionen. Den Jugendlichen nehmen Nachbarn auf, „eine meiner Familien“, nennt er sie heute. Die andere sind die engen Freund:innen, mit denen Speer durch die Natur streift, manchmal tage- und nächtelang. Ohne diesen doppelten Rückhalt „wäre ich wohl abgedriftet“. So beißt er sich durch. Realschule, zweiter Bildungsweg. Ein Leben im Überlebensmodus ohne finanzielle und emotionale Sicherheit. In der Klasse ein Außenseiter, der Stärke aus dem Zusammenhalt mit anderen Außenseiter:innen zieht. „Das hat mich widerstandsfähig gemacht für Gegenwind heute.“

Herr & Speer: Von Impact und Verantwortung

Da ist Vincent Immanuel Herr aus Berlin, Westen. Aufgewachsen in Wilmersdorf, Altbau, Stuck, Altsprachliches Gymnasium. Die Mutter ist Professorin für Kultur- und Musikwissenschaft, der Vater Geograf und Seelsorger. Ein Klavier im Wohnzimmer, Cellounterricht, Diskussionen am Abendbrottisch über Kant, Politik und soziale Verantwortung. Es ist ein Leben geprägt von emotionaler und finanzieller Sicherheit, von intellektueller Debatte und der Suche nach einem moralischen Kompass:  „Welchen Impact hat dein Handeln?“

Der Zufall führt Martin Speer und Vincent Herr, damals 21 und 19 Jahre alt, nach dem Abitur auf das gleiche College in Illinois, USA. Stipendien machen es möglich. Als einzige Deutsche steckt man sie zusammen in ein Zimmer. „Da haben wir entdeckt, dass wir wunderbar miteinander diskutieren können“, sagt Speer. „Nächtelang“, erinnert sich Herr. Wie geht Demokratie…

Bild: Phil Dera

Eine neue Story für Europa: Mit Ideen aus vielen Ländern wollen Vincent Herr und Martin Speer die EU aufmischen. Sie setzten sich dabei insbesondere für Frauenrechte und junge Menschen ein. 

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