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Wie Genderklischees Autistinnen unsichtbar machen

Autismus wird bei Frauen sehr selten diagnostiziert. Das liegt vor allem daran, dass sie bei der Diagnose nach Kriterien bewertet werden, die heteronormativ männlich sind. Die Medizinerin Christine Preißmann ist selbst Autistin und will anderen Frauen und Mädchen bei der Suche zu sich selbst helfen.

Christine Preißmann war ein stilles Mädchen. Ihre Leidenschaft galt Plänen und Flughäfen, auch von Weihnachtsmärkten bekam sie nicht genug. Puppen hingegen ließen sie kalt. „Es blieb mir ein völliges Rätsel, weshalb ich durch eine Trinkflasche dafür sorgen sollte, dass ein lebloses Kunststoffmodell nass wurde, um dann von mir trocken gelegt zu werden“, schreibt sie über ihre Kindheit in ihrem Buch „Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger“ (Trias Verlag). Genauso abstrakt waren für sie die Gefühle von Romanfiguren, über die sie in der Schule Aufsätze verfassen sollte. Grammatikalische Regeln einer Fremdsprache leuchteten ihr wesentlich schneller ein. Preißmann wusste damals noch nicht, dass sie das Asperger Syndrom hat.

Heute ist sie Ärztin und angesehene Expertin für Autismus. Autistische Personen haben Schwierigkeiten, soziale Codes zu lesen, Metaphern oder Ironie verstehen sie so oft so gut wie gar nicht. Ein Grund, warum Begegnungen mit anderen Menschen für sie nicht einfach sind. Dafür zeigen Autist*innen oft eine Begabung für alles, was mit der Analyse von Details und logischem Denken zu tun hat. Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis und brillieren oft in Naturwissenschaften. In der Popkultur werden Figuren wie Sheldon Cooper aus der Serie „The Big Bang Theory“ mit autistischen Zügen als emotional kalte Genies dargestellt. Auch dem berühmtesten Detektiv der Weltliteratur, Sherlock Holmes, wird von manchem Autismus angedichtet: Die dadurch oft romantisierte Störung passt zu dem Archetyp eines männlichen Antihelden, der keine Emotionen zulässt, aber durch seine extreme Intelligenz in seinen Bann schlägt. Wer in dieser Erzählung keinen Platz hat, ist die Autistin. Sie widerspricht dem Stereotyp einer emotionalen, empathischen Frau.

Autistinnen bleiben häufig unerkannt

„Bis vor kurzer Zeit ging man davon aus“, so Preißmann, „dass auf jede Autistin sechs bis acht autistische Männer kommen.“ Inzwischen weiß man: Die Dunkelziffer bei Frauen und Mädchen ist deutlich höher. Die Störung wird bei ihnen nur nicht so häufig diagnostiziert. Preißmann selbst musste bis zu ihrem 27. Lebensjahr auf die Diagnose „Asperger-Syndrom“ warten – nur eine von vielen Formen des autistischen Spektrums. Auch deswegen hat sie ihr Buch geschrieben, damit anderen Mädchen früher geholfen werden kann. Darin berichtet sie nicht nur von ihrer eigenen Kindheit. Auch Mütter von autistischen Mädchen und Therapeutinnen kommen zu Wort.

Was durch die Schilderungen und Erzählungen klar wird: Es ist vor allem das gesellschaftliche Frauenbild, das dafür sorgt, dass Autistinnen unerkannt bleiben. Während autistische Jungen oft schon im Kindergarten oder in der Schule durch aggressives Verhalten auffallen und dadurch schneller in psychologische Behandlung kommen, sitzen autistische Mädchen still in der Ecke und versuchen, nicht aufzufallen. „Das passt sehr gut zu dem Bild der Gesellschaft, dass Mädchen eben schüchtern seien“, sagt Preißmann. Später seien Frauen oft lebenspraktisch kompetenter als autistische Männer, sie können besser im eigenen Haushalt zurechtkommen. Preißmann vermutet, dass das vor allem daran liegt, dass diese Eigenschaften von Frauen erwartet werden: auch dadurch erfüllen sie eines der Kriterien nicht, an denen Autismus üblicherweise festgemacht wird. Außerdem beherrschen Frauen die Kunst des sogenannten „Masking“: das Imitieren der Verhaltensweisen von Nicht-Autist*innen. „So verleugnen sie oft über viele Jahre hinweg ihr…

Bild: imago images/Ikon Images

Autismus wird in Erzählungen, Wissenschaft und Medizin eher Jungen zugeschrieben. Das gesellschaftliche Frauenbild sorgt dafür, dass Autistinnen meist unerkannt bleiben.

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